Hintergründe und Analysen: Was ist eigentlich ACTA?

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Andreas Frischholz (+1)
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Juristische Bewertung

Betrachtet man Statements von Juristen, lässt sich ein Grundtenor erkennen: Zumindest für Deutschland ist die Hysterie übertrieben, grundsätzliche Kritik am Abkommen scheint aber berechtigt. Der Rechtsanwalt Jens Ferner erklärt etwa, dass für Deutschland kaum gewichtige Gesetzesänderungen zu erwarten sind – was unter anderem daran liegt, dass in den vergangenen zehn Jahren bereits zahlreiche Maßnahmen erfolgt sind, welche die Anpassungen für ACTA praktisch vorweg genommen haben. Aufgrund dessen kritisiert er das Argument des Bürgerrechtsvereins Digitale Gesellschaft, der mit ACTA eine Einführung strafrechtlicher Sanktionen auf EU-Ebene zur Durchsetzung von Urheberrechten befürchtet. Eine Strafbarkeit ist aber erst vorgesehen, wenn Urheberrechtsverletzungen in „gewerblichem Ausmaß“ geschehen – eine Privatkopie falle nicht darunter. Eine Bedrohung sieht er nicht in ACTA, sondern „vielmehr durch den Geist, der ACTA und die aktuelle Politik insgesamt kennzeichnet“.

Eine exakte Abgrenzung des „gewerblichen Ausmaßes“ ist allerdings schwierig, laut „Digitale Gesellschaft“ ist der Begriff einer von verschiedenen zentralen Begriffen aus dem Abkommen, die nur unzureichend definiert sind. Die befürchtete Folge: Raum für Interpretationen und Rechtsunsicherheit. Infolge dessen befürchtet man repressives Handeln gegen Nutzer von Seiten der Provider, da letzteren ansonsten strafrechtliche Konsequenzen wegen „Beihilfe“ bzw. mittelbarer „wirtschaftlicher oder kommerzieller Vorteile“ durch Urheberrechtsverstöße drohen.

Zumindest bezüglich des Rechtsunsicherheitsaspektes dürfte diese Befürchtung sowohl in Deutschland als auch in Österreich nicht angebracht sein, da dort ein Bestimmtheitsgebot bei Strafbestimmungen herrscht, womit diese Staaten bei einer etwaigen Abkommensumsetzung die entsprechenden Gesetze ausreichend genau zu formulieren haben. Abseits dieser generellen Regel sei erwähnt, dass die deutsche Judikatur für die Erfüllung der Anforderung „gewerbliches Ausmaß“ auch schon einen einzigen unlizensierten Tausch einer Datei gelten lässt.

Jura-Professor Dr. Axel Metzger, Koordinator einer Eingabe von europäischen Jura-Professoren gegen eine Verschärfung des Urheberrechts durch ACTA, schätzt die Auswirkungen des Abkommens auf die EU wesentlich umfassender ein als Ferner – entgegen der Behauptung der EU-Kommission gehe ACTA über bestehendes europäisches Recht hinaus. Die Ahndung vorsätzlicher Marken- und Urheberrechtsverletzungen in gewerblichem Ausmaß gelte zwar für Deutschland, nicht aber auf europäischer Ebene. Er fordert Sanktionen klar auf „gewerbliche Handlungen“ zu begrenzen. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt liege in der Reglung von einseitigen Sanktionen, die ohne Integration adäquater Rechtsschutzmöglichkeiten erfolge. So regele etwa Artikel 27, IV „einen Auskunftsanspruch gegen Access-Provider auf Offenlegung der Identität von Rechtsverletzern“ – im europäischen Recht seit 2004 bekannt, allerdings fehlen bei ACTA Rechtsschutzgarantien für Betroffene.

Faktenmangel

Ein gravierendes Problem an der Debatte um ACTA (sowie das Urheberrecht im Allgemeinen) ist der Mangel an überprüfbaren Fakten. Viele der genannten Argumente beruhen in erster Linie auf ideologischen Grundsätzen. Tiefergehende Analysen kamen indes vom EU-Parlament und der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Interessant ist die Analyse von Ärzte ohne Grenzen, immerhin wurde ACTA oft mit dem Verweis auf illegalen Medikamentenhandel verteidigt. Doch gerade da sieht die Organisation Probleme, da bereits Eingriffe bei Verdachtsfällen den legalen Handel von Medikamenten beschränken könnten – insbesondere den für Entwicklungsländer vitalen Handel mit Generika.

Die Analyse des EU-Parlaments übt Kritik an der Durchsetzung von ACTA und der grundsätzlichen Frage, welche Vorteile EU-Bürger von dem Abkommen haben – insbesondere von einer schnellen Umsetzung. Manche Ländern wie die USA brauchen keine Gesetzesänderungen für ACTA, durch das Abkommen ändert sich also nichts. Länder, in denen Änderungen notwendig sind, müssen die Gesetze allerdings erst verabschieden, was Zeit in Anspruch nimmt. Vorerst besteht also kein Vorteil durch das Abkommen. Und dass für den internationalen Handel bedeutende Länder wie Russland und China nicht am Abkommen beteiligt sind, lässt ebenfalls Zweifel an dessen Nutzen aufkeimen. Als neue Entwicklung ist hier anzumerken, dass die EU-Kommission gegenüber den Abgeordneten des EU-Parlamentes verlauten ließ, dass sich angeblich China und Taiwan für das Abkommen interessieren würden. Genaueres ist hierzu aber nicht bekannt.

Darüber hinaus ärgern sich Abgeordnete des EU-Parlaments über das Verhalten der EU-Kommission, die Herausgabe von Dokumenten und Verhandlungsprotokollen zu verweigern. Insbesondere den Verhandlungsprotokollen wird ein hoher Wert beigemessen, da diese bei den vagen und unklaren Formulierungen einen Hinweis auf die eigentliche Intention der Verfasser geben. Ein Vorwurf, den auch Bürgerrechtsorganisationen in den USA teilen, vor allem weil einigen Unternehmen offenbar einen vollständigen Zugriff auf die Dokumente erhalten haben. Der Groll der Parlamentsabgeordneten hat unter Einfluss zahlreicher E-Mails offenbar einen so starken Eindruck hinterlassen, dass sich EU-Kommissar Karel de Gucht – einer der zentralen Befürworter von ACTA – zu einem Brief (PDF-Datei) an die Abgeordneten genötigt sah, in dem er sie bittet, eine „faktenbasierte“ Entscheidung zu treffen und sich nicht von Bürgerprotesten beeinflussen zu lassen.