Leiharbeiter bei Amazon: Reaktionen und Stimmen zum ARD-Bericht

Patrick Bellmer
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Leiharbeiter bei Amazon: Reaktionen und Stimmen zum ARD-Bericht

Das Amazon-System

Fast jeder kennt ihn, viele nutzen seine Dienste – die Rede ist vom Online-Händler Amazon, der auch in Deutschland im großen Stil aktiv ist und mehrere Versandzentren zwischen Nordsee und Alpen betreibt. Als Buch- und Musikhändler im Internet gestartet, ist das Unternehmen mittlerweile auch aus Deutschland nicht mehr wegzudenken. Denn mit ausgetüftelter Software und oftmals niedrigen Preisen konnten viele Kunden gebunden und überzeugt werden. Hilfreich ist es da natürlich, dass der Mensch an sich faul ist und den kurzen Gang zum Computer dem Gang in den Laden vorzieht – zu bequem ist das Bestellen im Internet, kein Regen, keine Parkplatzsuche, kein unfreundliches Verkaufspersonal, keine stark eingeschränkte Auswahl.

Dass der Faktor Mensch in den Versandzentren von Amazon die Kehrseite dieser schillernden Medaille ist, wollten ARD und Hessischer Rundfunk in den Mittelpunkt der Dokumentation „Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon“ (abrufbar in der ARD-Mediathek) stellen. In knapp 30 Minuten zeichnen die Reporter ein durchaus erschreckendes Bild.

Frei von Kritik ist der neue ARD-Bericht nach kritischen Stimmen zur Dokumentation „Der Apple-Check“ vor Kurzem erneut nicht. So gibt es durchaus Stimmen, die die Aufmachung des Berichts und die Inszenierung der Bedrohung durch Amazon kritisieren. Das System von Amazon wird anhand einer Weltkarte illustriert, die an eine Kriegsführung erinnert, der Sicherheitsdienst mit einer „paramilitärischen Organisation“ gleichgesetzt, deren Name allein aus Sicht der Redakteure schon zu Spekulationen zur Rechtsradikalität verleitet, und die Kamerapositionen sowie die Musikuntermalung tragen ihren Teil zur Schaffung einer Drohkulisse bei. Angesichts der vielen kritischen Stimmen im Internet, denen Amazon sich nach der Ausstrahlung der Dokumentation ausgesetzt sieht, tritt diese Kritik jedoch deutlich in den Hintergrund.

Im Bericht der ARD wird der Einsatz ausländischer Leiharbeiter bei Amazon näher beleuchtet, die zu tausenden aus Spanien, Rumänien, Lettland und anderen EU-Staaten nach Deutschland gefahren werden, um in Koblenz, Augsburg, Bad Hersfeld und den anderen hiesigen Standorten die Auftragsspitzen in der Vorweihnachtszeit abzufangen. Ein – auf den ersten Blick – wenig überraschender Schritt, denn in den Wochen und Monaten vor dem 24. Dezember wird gerne und viel eingekauft und somit auch bestellt. Doch vor allem zeigt die Dokumentation den Umgang mit den Leiharbeitern auf. Mit Ausschreibungen, die die Anstellung direkt bei Amazon zu einem Lohn von knapp zehn Euro die Stunde versprechen, werden Männer und Frauen Busweise für die Arbeit in Deutschland gesucht, erfahren aber erst kurz vor ihrer Abreise, dass doch nicht Amazon der direkte Arbeitgeber sein und die Vergütung geringer ausfallen wird, so der ARD-Bericht.

Abseits der Arbeit, die als anstrengend beschrieben wird, zeichnet die Dokumentation eine Situation permanenten Drucks, des völligen Ignorierens der Privatsphäre und des Verlustes eines großen Teils der persönlichen Würde. Nach der Arbeit in den Versandzentren, die Amazon mit hellen Farben und Solarpanels als Vorbild für den verantwortungsvollen Arbeitgeber präsentiert, teilen sich die Leiharbeiter zu sechst, siebt oder acht eine Unterkunft. Nicht nur, dass allein dadurch abseits der Arbeitszeit kaum private Zeit und Privatsphäre für den Einzelnen zur Verfügung steht, ein laut dem Bericht der rechtsradikalen Szene nahestehender Sicherheitsdienst ist auf dem Gelände der Ferienanlagen omnipräsent.

Dieser, so Verdi-Sekretär Heiner Reimann gegenüber ComputerBase, soll offiziell die Einhaltung der Regeln in den Wohnanlagen überwachen. Tatsächlich aber, so zeigt es die Dokumentation, geht die Tätigkeit der „auffällig“ gekleideten und frisierten, überwiegend männlichen Sicherheitskräfte deutlich weiter. Eine Leiharbeiterin gibt gegenüber den Reportern an, dass Unterbringungen in Abwesenheit der Bewohner ebenso wie Taschen überprüft und Bewohner in intimen Momenten wie dem Schlaf oder unter der Dusche überrascht werden. Reimann zufolge, der sich bereits seit längerer Zeit mit Amazon beschäftigt, geht es dabei nicht um Stichproben, sondern reine Machtspiele. Denn überdurchschnittlich oft seien Frauen von solchen Maßnahmen betroffen, der Faktor Attraktivität soll zudem eine große Rolle spielen.

Und Amazon? Dort scheint man die Realität zu kennen. Denn schon mehrfach soll es Beschwerden gegeben haben, nicht nur in Bezug auf die „Qualität“ der Unterbringung oder den Umgang des Personals. Auch in den Versandzentren selbst gibt es immer wieder Probleme, so beispielsweise mit den Arbeitsbedingungen. So wird von zahlreichen Kreislaufproblemen bei hohen Temperaturen in den Hallen oder zu knapp kalkulierten sanitären Einrichtungen während der Hochsaison gesprochen. In Einzelfällen sollen leitende Angestellte des Unternehmens jedoch für Veränderungen gesorgt haben.

Aber: An den eigentlichen Problemen, die im Film dargestellt werden, hat man über Jahre hinweg festgehalten, denn nicht zum ersten Mal muss sich Amazon geballte Kritik gefallen lassen. Die offizielle Begründung für den Einsatz von Leih- und Zeitarbeitern ist, dass die erwähnten Spitzen abgefangen und gleichzeitig „motiviertes“ Personal gefunden werden soll. Allerdings liegt der Anteil der nicht fest beschäftigten Mitarbeiter über das gesamte Jahr hinweg auf einem hohen Niveau, so ver.di. Während an einer Stelle in der Dokumentation das Verhältnis von 3.100 befristeten zu 200 fest angestellten Mitarbeitern genannt wird, wobei hierbei nicht ganz korrekt nicht zwischen fest angestellten, aber befristeten Mitarbeitern und Leih-/Zeitarbeitern unterschieden wird, ist an anderer Stelle von einem Zweidrittelanteil die Rede. In einer Stellungnahme erklärte Amazon gegenüber ComputerBase, dass an den derzeit sieben deutschen Standorten insgesamt mehr als 7.700 fest angestellte Mitarbeiter beschäftigt werden. Zum Thema Leiharbeiter heißt es: „Diese Mitarbeiter unterstützen uns, um die erhöhte Anzahl an Kundenbestellungen in Spitzenzeiten zu bewältigen. Gleichzeitig haben wir dadurch die Möglichkeit, potenzielle neue langfristige Mitarbeiter kennenzulernen und gemäß unserem zukünftigen Wachstum einzustellen. In absoluten Spitzenzeiten arbeiten wir darüber hinaus mit Zeitarbeitsfirmen zusammen.“ Auch fest angestellte Mitarbeiter sollen jedoch teilweise unter dem gleichen Druck wie die ausländischen Leiharbeiter stehen, wie die Dokumentation zeigt.

Befristete Mitarbeiter erfahren erst wenige Tage vor dem Auslaufen des Vertrags, ob dieser verlängert wird. Aber selbst wenn sie Glück haben: Verträge mit Laufzeiten von sechs oder ähnlich wenigen Wochen sollen keine Ausnahme sein – obwohl Amazon diesen Personen selbst gute Arbeit bescheinigt und nach deren Ausscheiden unmittelbar neues Personal sucht. Dieses sei aber immer schwerer zu finden, so Reimann. Denn obwohl Amazon auf die Region bezogen vergleichsweise gute Stundenlöhne zahle, hätten sich die Arbeitsbedingungen inzwischen rumgesprochen – viele würden sie zudem aus eigener Erfahrung kennen, so der Gewerkschaftssekretär. Allein deshalb müsse Amazon immer mehr Aufwand betreiben, um Personal zu finden.

Dass es auch anders geht, zeigt nach Angaben von ver.di beispielsweise der Großhändler Libri. Dieser betreibt nur wenige Meter von Amazon entfernt in Bad Hersfeld ebenfalls ein Versandzentrum und beliefert im Wesentlichen Buchhandlungen. Dort, so Reimann, würden in der Hochsaison ebenfalls Leiharbeiter eingesetzt, allerdings in einem prozentual viel kleineren Rahmen. Zudem seien die Arbeitsbedingungen inklusive Vergütung besser. Denn während Libri sich als Handelsunternehmen betrachtet und entsprechend bezahlt, stuft Amazon sich selbst eher als Logistikunternehmen ein – mit entsprechend geringeren Stundenlöhnen.

Doch nicht nur nach Außen hin sind die Unterschiede zwischen festem und geliehenem Personal zu erkennen, auch in den Zentren selbst seien diese spürbar. So erklärte ein Amazon-Mitarbeiter gegenüber ComputerBase, dass man ein Stück weit von zwei Welten sprechen könne. Während die Stimmung und der Umgang unter den Festangestellten „normal“ sei und man merke, „dass diese Arbeiter deutlich zufriedener sind mit dem Job“, gebe es unter Leiharbeitern „den einen Teil, der Vorsichtig ist und sich mit allem zurückhält und einfach nur ruhig mitmacht“.

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