Mittelerde: Mordors Schatten im Test: Mächtesystem der Orks zahlt sich aus

 2/4
Sasan Abdi
198 Kommentare

Auf einen Blick

Für die Videospiel-Umsetzung von Film- oder Literaturinhalten bieten sich grundsätzlich zwei Wege an. Beim ersten wird der Inhalt des Originals einfach mehr oder weniger detailgetreu übernommen. Beim zweiten wird das aus dem Ursprungsmedium bekannte Universum dagegen um eine zusätzliche Perspektive erweitert, indem neue Charaktere und Handlungsstränge in das Setting eingeflochten werden.

Letzteren Ansatz wählt Monolith für „Mittelerde: Mordors Schatten“. Dementsprechend spielt die Handlung zwischen den Geschehnissen von „Der Hobbit“ und „Herr der Ringe“ und erzählt im Open-World-RPG-Genre die Geschichte des neuen Charakters Talion. Diese Ausgangssituation ist wichtig, weil sie bedeutet, dass potentielle Spieler im Idealfall zumindest ungefähr wissen sollten, um was es in den Tolkien-Büchern geht – Experte muss man aber nicht sein, um dem Plot folgen zu können.

Nüchterne Handlung, gute Inszenierung

Trotzdem schadet es nicht zu wissen, dass „Mordors Schatten“ in einer Zeit ansetzt, in der das Land noch nicht völlig in Dunkelheit versunken ist. Noch bewachen die Waldläufer von Gondor das schwarze Tor – bis sich die Gerüchte bewahrheiten und Saurons Heerscharen tatsächlich über sie herfallen.

Unter den geschlagenen Bewachern befindet sich auch der Waldläufer Talion, der bei der Schlacht nicht nur sein Leben verliert, sondern obendrein mit ansehen muss, wie ein mysteriöser Widersacher auch seine Frau und seinen Sohn hinrichtet. Ein Gutes hat die Situation allerdings, denn Talion erwacht kurze Zeit später trotz der tödlichen Klingenschläge als Wiedergänger. Möglich wird dies, weil zum Zeitpunkt seines Todes ein Rachegeist in ihn eingefahren ist, bei dem sich schnell herausstellt, dass er ein alter Bekannter aus der Tolkien-Welt ist.

Das Schicksal eint Talion und seinen für die meisten Lebewesen unsichtbaren Begleiter in einer Gemeinschaft: Nur gemeinsam können sie Rache an dem nehmen, der ihnen das Leid zugefügt hat – und so aus der Halbwelt, in der ihre Seelen gefangen sind, entkommen.

Eine solche Erzählung ist nicht innovativ, zumal überraschende Wendungen und vielschichtige Charaktere eher Mangelware sind. Das schadet in diesem Fall aber nicht so sehr, weil „Mordors Schatten“ trotzdem gut das „Look & Feel“ der Tolkien-Sage einfängt. Durch die Schauplätze, das Artwork und vor allem durch die vielen guten Zwischensequenzen entsteht eine hervorragende Spielatmosphäre, die den für sich genommen mäßig spannenden Plot deutlich aufwertet, sodass der Spieler gerne am Ball bleibt.

Ork-Politik als Herz des Gameplays

Hinzu kommt, dass das eigentliche Ziel von Talion – die Rache am Anführer von Saurons Rotten – schnell in den Hintergrund gerät. In den Vordergrund rückt stattdessen die lokale Ork-Politik, die als Schlüssel zum finalen Racheakt die eigentliche Haupthandlung Stück für Stück verdrängt.

Um nämlich Hand an Saurons Statthalter legen zu können, müssen Talion und der in ihn gefahrene Rachegeist sich erst durch deren orkische Helferhorden kämpfen. Klar, dass letztere einem extrem hierarchisch aufgebauten Gesellschaftssystem unterliegen: Die gemeinen Grunts werden von Hauptmännern befehligt, die Hauptmänner stehen im Rang unter den Leibwächtern, und die Leibwächter dienen direkt ihren insgesamt fünf Häuptlingen.

Diese Pyramide ist für Talion entscheidend, denn erst wenn er genügend Trubel unter den Häuptlingen erzeugt hat, wird sich der oberste Bösewicht von „Mordors Schatten“ überhaupt dazu herablassen, sich mit der Angelegenheit und seinem mysteriösen Waldläufer-Gegner zu befassen.

In dieser „Nemesis System“ genannten Konstruktion liegt die große Stärke und zugleich das große Abgrenzungsmerkmal zu anderen Rollenspielen mit einer offenen Welt verborgen. Denn die orkische Gesellschaft ist dynamisch: Tötet der Spieler einen der Führer oder machen sie sich in internen Machtkämpfen gegenseitig den Garaus, kann es passieren, dass aus den unteren Rängen Neulinge nachrücken – vor allem dann, wenn sie Talion im Kampf töten.

Wer möchte, kann im Zeitraffer mitverfolgen, wie sich die Macht in der orkischen Gesellschaft verschiebt. Noch besser aber ist, wenn sich der Spieler die Geschehnisse zunutze macht. Für einen besonders starken Leibwächter bietet sich zum Beispiel kein Frontalangriff an; stattdessen kann der Spieler einfach abwarten, bis ein Hauptmann versucht, dem Zielork den Posten streitig zu machen. Im Rahmen einer Nebenmission kann Talion dann dem Treiben zusehen – und im entscheidenden Moment ohne allzu großen Aufwand zuschlagen.

Gekrönt wirkt das System durch die Möglichkeit, Doppelagenten in die Pyramide einzuschleusen. Dazu ist es ab dem Midgame möglich, aufstrebende Orks zu brandmarken. Mit ein bisschen Unterstützung schaffen es die „falschen Fuffziger“ in hohe Ränge, was es Talion noch einfacher macht, Saurons Armee Stück für Stück zu unterminieren.

Wer in dieser Hinsicht effizient sein möchte, kommt um Nachforschungen nicht herum. Talion befragt Sklaven, verhört Feinde und sammelt Informationsschnipsel, um die Namen, die Stärken und Schwächen sowie den Aufenthaltsort der Mächtigen herauszufinden. Schon letzteres kann enorm wichtig sein: Auf der Hatz nach einem bestimmten Hauptmann mussten wir mitten im Kampf feststellen, dass in der Feste unserer Zielperson gerade auch ein anderer Hauptmann weilte. Klar, dass eine solche Fehlplanung mitunter den Tod bedeuten kann.

Noch wichtiger aber sind die Stärken und insbesondere die Schwächen. Manche Chef-Orks fürchten sich zum Beispiel vor Ghuls, Feuer oder anderem Getier oder sind besonders anfällig für Schleichattacken, Nah- oder Fernkampfangriffe. Diese Phobien kann sich Talion zunutzemachen. Warum zehn Minuten in einen harten Kampf investieren, wenn sich der Zielork auch mit einem einzigen gezielten Bogenschuss ausschalten lässt?

Es ist eine große Überraschung, dass „Mordors Schatten“ das Tolkien-Setting nicht nur gekonnt einfängt, sondern überdies sogar spielerisch eine beachtliche Innovation bereithält. Die Strahlkraft des orkischen Machtsystems kann dabei kaum überschätzt werden: Ohne wäre der Titel tendenziell blutarm, was auch am weiteren Gameplay liegt.