Kommentar: Facebook scheitert an der sozialen Wirklichkeit

Andreas Frischholz
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Kommentar: Facebook scheitert an der sozialen Wirklichkeit
Bild: Twitter: Espen Egil Hansen
Andreas Frischholz

Es ist eine Ikonographie der Kriegsdokumentation: Vietnam, 1972, nach einem Napalm-Angriff auf ein Dorf fliehen die Bewohner über eine Landstraße. Darunter das damals 9-jährige Mädchen Kim Phúc, nackt und mit schwersten Verbrennungen. Das Bild des Fotografen Nick Út wurde zum Pressefoto des Jahres 1972 und später noch mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Es ist ein visuelles Mahnmal, das vermutlich niemand vergisst, der es gesehen hat. Zu erschütternd ist der Eindruck, den es hinterlässt.

Nun scheint man in den Reihen von Facebook aber keinen allzu großen Sinn für Zeitgeschichte zu haben. Denn ein Facebook-Eintrag der norwegischen Zeitung Aftenposten mit dem Bild als Aufmacher wurde gelöscht. Die Begründung: Zu viel Nacktheit. Was angesichts der Geschichte des Bilds eine bizarre Verdrehung der Wirklichkeit ist.

Nun könnte man sagen: Ok, ein Algorithmus hat übermotiviert angeschlagen, solche Fehler können bei der Kontrolle von Millionen gemeldeter Beiträge passieren. Nur handelt es sich bei diesem Vorfall eben um kein Versehen. Facebooks Sittenwächter forderten nicht nur beim ersten Eintrag der Aftenposten-Redaktion, das Bild doch bitte zu löschen oder zu verpixeln. Sondern entfernten auch noch einen weiteren Beitrag, der mit demselben Aufmacher das Vorgehen kritisierte. Und selbst vor der Norwegischen Ministerpräsidentin Erna Solberg machte Facebook nicht halt: Ein Beitrag von ihr, der auf die Geschichte verwies und Regeländerungen einforderte, wurde ebenfalls gelöscht.

Es ist ein System, das Methode hat, wie Aftenposten-Chefredakteur Espen Egil Hansen in einem offenen Brief an Mark Zuckerberg anprangert: „Als erstes erstellst du Regeln, die nicht zwischen Kinderpornographie und berühmten Kriegsfotos unterscheiden können.“ Und dann werden diese Regeln noch ohne Sinn für jegliches Augenmaß durchgedrückt.

Facebook fehlt jegliches Gespür für Nuancen

Erneut ist nicht zu übersehen: Facebook ist mit der Moderation der digitalen Kommunikation schlicht überfordert. Was bedenklich ist, denn mit den Milliarden an Nutzer ist das soziale Netzwerk mittlerweile eine der weltweit führenden Plattformen, wenn es um das Verbreiten von Informationen geht. Praktisch keine Redaktion kann es sich erlauben, auf das soziale Netzwerk zu verzichten. Nicht zu unrecht schreibt daher Egil Hansen: Mark Zuckerberg ist der „mächtigste Herausgeber der Welt“.

Damit einher geht allerdings auch eine Verantwortung, der Facebook nicht gerecht wird und offenkundig auch nicht gerecht werden kann. So zeigte sich bereits in der Hate-Speech-Debatte: Eine Balance zu finden zwischen der Meinungsfreiheit auf der einen Seite und dem Kampf gegen Hass und Hetze auf der anderen, das ist praktisch unmöglich. Facebooks Richtlinien sind eben für die Sonnenseiten des digitalen Lebens ausgelegt. Doch je tiefer man in die Abgründe der sozialen Wirklichkeit vorstößt, desto weniger lässt sich die Welt in Schwarz und Weiß einteilen. Und in diesen Grauzonen ist ein Gespür für Nuancen gefragt, das Facebook vollkommen abgeht.

Kein Partner für den Anti-Terror-Kampf

Umso bedenklicher ist nun, dass die Bundesregierung Facebook auch noch für den Anti-Terror-Kampf einspannen will. Unlängst forderte Innenminister Thomas de Maizière beim Besuch der deutschen Facebook-Niederlassung, das soziale Netzwerk solle doch aktiver gegen extremistische und radikalisierende Inhalte vorgehen. Mit „innovativen Lösungen“ – wie es der Innenminister nannte – soll etwa Terror-Propaganda schon vor der Veröffentlichung erkannt und aus dem Kommunikationsstrom herausgefiltert werden.

Nun besteht aber auch bei solchen Beiträgen das Problem: Nicht alles, was auf den ersten Blick unter diese Kategorie fällt, ist zwangsläufig illegal. Und angesichts der Löschpraktiken von Facebook ist es nachvollziehbar, wenn Netzpolitik.org-Chefredakteur Markus Beckedahl vor der „Schaffung von unkontrollierbaren Zensurinfrastrukturenwarnt.

Wenn es also eine Lehre aus dem aktuellen Fall gibt, dann lautet die wohl: Auch künftig sollten besser Staatsanwälte und Gerichte entscheiden, ob Beiträge rechtswidrig sind. Und dann entsprechend der Gesetze dagegen vorgehen.

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