Netzneutralität: Der Machtkampf um die Vorherrschaft im Internet

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Andreas Frischholz
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Zwischen Notwendigkeit und Luftschlössern

Die Provider weisen solche Vorwürfe zurück. Es gehe nicht darum, ein Zwei-Klassen-Internet zu schaffen. So erklärt etwa VATM-Geschäftsführer Grützner, man unterstütze „sowohl den Erhalt von Best Effort als auch die Möglichkeit, qualitätsgesicherte Spezialdienste anzubieten“. Und diese wären eine technische Notwendigkeit. Die Datenmenge, die übermittelt werden muss, wachse in den nächsten Jahren rapide an. Zudem komme es nicht mehr auf den reinen Datentransfer an, da die Netze sich weiter entwickeln und Anwendungen immer komplexer werden – etwa durch vernetzte Produktionsprozesse im Rahmen des Industrie-4.0-Konzepts, das Internet der Dinge sowie intelligente Verkehrsleitsysteme. Daher wäre die Downloadrate in Zukunft auch nicht mehr das einzige Kriterium für die Qualität eines Internetzugangs, erklärt der Provider-Verband VATM.

So werden etwa für IPTV-Dienste und Streaming-Services – vor allem in Zeiten von 4k-Auflösungen – neben hohen Downloadraten auch niedrige Jitter-Fehlerraten benötigt. Auf diese wären auch VoIP-Gespräche oder Online-Videokonferenzen angewiesen. Unternehmen sind im Cloud-Zeitalter zudem auf schnelle Uploads angewiesen. Und für sicherheitsrelevante Anwendungen wären zudem niedrige Latenzen erforderlich.

Auch das Online-Gaming ist ein vielversprechender Sektor für die Netzbetreiber. Spielern könnte etwa im Rahmen von Spezialdiensten eine besonders niedrige und stabile Ping-Rate garantiert werden. Viel konkreter werden die Vorschläge allerdings nicht. Doch angesichts der bisherigen Ankündigungen wären etwa Spiele-Streamig-Dienste wie PlayStation Now oder Nvidia Grid prädestiniert für solche Angebote. Selbst wenn das mittlerweile von Sony gekaufte Start-Up OnLive keinen Erfolg hatte, ist das Modell interessant. Denn die Spiele werden nicht mehr zu Hause auf dem Rechner oder der Konsole berechnet, sondern in den Rechenzentren des Anbieters. Die Eingaben des Spielers werden also zunächst an den Server geschickt, zurück kommen dann die fertig berechneten Bilder. Damit dieses Konzept funktioniert, sind niedrige Latenzen erforderlich – und diese könnten Netzbetreiber mit einem Spezialdienst gewährleisten.

Der große Haken an dieser Argumentation ist allerdings: Bislang sind die Spezialdienste lediglich Luftschlösser, selbst auf Nachfrage können bislang noch keine konkreten Projekte genannt werden. Es gilt lediglich das Versprechen der Provider, dass neue „innovative Anwendungen“ entwickelt werden, wenn erst einmal der rechtliche Rahmen steht. Hinzu kommt: Anwendungen wie etwa IPTV oder Streaming-Dienste, die bislang als Beispiel für Spezialdienste genannt werden, existieren bereits heute und funktionieren auch im offenen Internet, ohne dass die Netzbetreiber eine bestimmte Übertragungsqualität für eine Extragebühr gewährleisten müssten. Daher lautet auch einer der Kritikpunkte, dass es weniger um neue Dienste, sondern vielmehr um ein neues Geschäftsmodell gehe. So schreibt etwa der EU-Parlamentarier Michel Reimon in einem Blog-Beitrag: „In den Verhandlungen konnte keine Partei eine Anwendung nennen, die diese Spezialdienste braucht und die es nicht jetzt schon gibt. Tatsächlich geht es darum, Film-, TV- und Musikstreaming sowie Sprachtelefonie zu kostenpflichtigen Zusatzdiensten zu machen, an denen die Telekom-Unternehmen (mit)verdienen.

Die Frage ist nun: Werden solche Pläne nicht ohnehin verhindert, solange die Spezialdienste durch ein – wie es im EU-Sprech heißt – „qualitativ hochwertiges und offenes Internet“ ergänzt werden? Die Antwort von Befürwortern der Netzneutralität wie der Bürgerrechtsgruppe Digitale Gesellschaft fällt eindeutig aus: Nein, man könne schlicht nicht zwischen einem offenen Internet und Spezialdiensten unterscheiden. Ein Kernproblem ist etwa, dass die EU nicht genau festlegt, was unter einem qualitativ hochwertigen und offenen Internet zu verstehen ist. Die Befürchtung lautet nun: Aufgrund dieser vagen Vorgaben drohe allein auf technischer Ebene eine wachsende Kluft. Denn die Provider hätten allein aus marktwirtschaftlicher Logik eher ein Interesse, dass Spezialdienste besser ausgebaut werden, wenn diese erst einmal etabliert sind. „Es ist zu erwarten, dass Telekommunikationsanbieter mehr in Spezialdienste als in das offene Internet investieren, sodass das offene Internet technisch immer weiter ins Hintertreffen gerät“, sagt Volker Trapp von der Digitalen Gesellschaft im Gespräch mit ComputerBase.

Ein weiteres Problem ist die schwammige Definition für Spezialdienste. Per se sollen sie nur möglich sein, wenn Online-Anwendungen und Inhalte eine bestimmte Qualität bei der Datenübertragung benötigen, die über das offene Best-Effort-Internet nicht gewährleistet werden kann. Wie diese Qualität in der Praxis aussehen muss, bleibt allerdings unklar. Für Provider biete sich laut einer Analyse der Digitalen Gesellschaft nun die Möglichkeit, ein willkürliches Qualitätslevel für bestehende Dienste wie VoIP oder IPTV festzulegen, um diese als kostenpflichtigen Spezialdienst realisieren zu können.