Der religiöse Aspekt und der Einfluss Wyclifs
Neben dem nationalen Bestreben der Böhmen wurde die Reformbewegung vornehmlich durch den moralischen Verfall der Kirche und dem Wunsch nach grundlegenden Erneuerungen hervorgerufen. Die Kirche hatte im 14. Jahrhundert ihre frühere Glaubwürdigkeit verloren. Besonders die Simonie, die Anhäufung von Reichtum durch kirchliche Pfründen und die Unglaubwürdigkeit der Kirche – insbesondere durch das abendländische Schisma 1378 und die Steigerung der Krise 1409 auf dem Pisaner Konzil – sorgten für Unmut.[5] „Die Kirchenspaltung hatte die Kirche Ansehen und Glaubwürdigkeit gekostet. Man denke nur an die gegenseitige Verfluchung der beiden Päpste oder die notwendige Finanzierung zweier teurer päpstlicher Höfe.“[5] Für Josef Válka ist die hussitische Bewegung aufgrund der kirchlichen Missstände, in erster Linie durch das päpstliche Schisma und den moralischen Verfall des Klerus, entstanden.[6]
Zu den Zeiten der Krise kursierten vermehrt die Schriften des englischen Philosophen John Wyclif an der Prager Universität. Zunächst beschäftigte man sich dort ausführlich mit seinen philosophischen Schriften, bevor man auch seine theologischen und kirchenpolitischen Abhandlungen betrachtete.[7] Mit seinen Texten griff er „im Namen der Bibel die Autorität und Herrschaft der gesamten kirchlichen Hierarchie selbst“[8] an. Die Bibel stellte für Wyclif das Fundament seiner Geisteshaltung dar, von dem aus man ausnahmslos auszugehen und zu argumentieren habe – eine Auffassung, die viel später eine der zentralen Säulen der lutherischen Reformation werden sollte (sola scriptura).
So griff er die weltliche Herrschaft der Kirche an – und damit zugleich ihre weltlichen Besitzungen und Reichtümer –, da diese aus der Bibel nicht zu begründen sei. Darauf aufbauend, sei es weltlichen Herren gestattet, sündigen Kirchen die Güter zu entziehen. Wyclif proklamierte unter anderem auch, dass der Papst ein Verdammter sein könne, dem man nicht zu Gehorsam verpflichtet sei. Somit wäre es die Aufgabe jedes einzelnen Gläubigen, die Bibel selbst zu kennen. Auf der Grundlage der Bibel lehnte er Sakramente wie die Taufe oder die Beichte ab. Auch die jährliche Kommunion sei nicht in der Bibel begründet.[9] Ein Hauptkritikpunkt seiner Schriften war seine Ansicht von der Eucharistie. Er vertrat die Meinung, dass in der Eucharistiefeier die Transsubstantiation von Brot und Wein nicht stattfinde. Die Substanzen Brot und Wein verwandelten sich also nicht zum Leib und Blut Christi. Die Eucharistie sei vielmehr als ein symbolischer und hinzugefügter Akt anzusehen – eine der wenigen Ansichten, die Hus später nicht vertrat. Die Sakramente, die durch die Kirche gespendet werden, sah er als überflüssig an, wodurch er schlussfolgernd die Kirche an sich infrage stellte. Jedem Geistlichen, der sich in Todsünde befinde, sprach er den Anspruch ab, Gehorsam verlangen zu können. Er kritisierte den materiellen Wohlstand der Kirche, der gegen die kirchliche Ideologie des Lebens in Armut spreche, und stellte die Autorität des Papstes grundsätzlich infrage. Die Päpste, so Wyclif, hatten sich ihre Stellung in der Kirche angemaßt, denn in der Bibel gebe es keinen Beleg für das Papsttum. In seinen letzten Werken setzte Wyclif den Papst sogar immer mehr mit dem Teufel respektive dem Antichristen aus der Offenbarung des Johannes gleich.[10]
Um die Jahrhundertwende kam Johannes Hus mit diesen Schriften in Kontakt. Er las sie nicht nur, sondern kommentierte einzelne Stellen und erweiterte einige Thesen. Zum ersten Mal tauchten 1403 die sogenannten 45 Thesen Wyclifs auf. Ursprünglich waren es 24 Thesen, die auf der Londoner Erdbebensynode von 1382 zusammengestellt worden waren. Der Prager Magister Johannes Hübner fügte diesen 24 noch weitere 21 hinzu. Diese nun 45 Thesen fanden in den folgenden Jahren und noch auf dem folgenden Konzil gegen die hussitische Reformbewegung und insbesondere gegen Johannes Hus Verwendung.[11]
Die Forschung ist sich heute darüber einig, dass „sich alle Strömungen, die damals in der böhmischen Reformbewegung erkennbar waren: Der Wyclifismus, die Betonung einer tschechischen Nationalreform und die erneute Dringlichkeit der Kritik an den sittlichen Mißständen“[12] sich in Johannes Hus vereinigten. Er wurde zur tragenden, aber auch zur tragischen Inkarnation des Hussitismus. Wyclifs Vorstellungen setzte Hus schon bald in die Praxis um.