Arabische Welt - Viva la Revolution

Status
Für weitere Antworten geschlossen.

Nossi

Captain
Registriert
Okt. 2002
Beiträge
3.893
Morgen,

wäre hätte vor wenigen Wochen, als der junge Akademiker sich anzündete, gedacht, was das alles auslösen würde ?

Ich finde es - man möge mir das im Angesicht der etwa 130 Toten verzeihen - äusserst interessant, bewusst so einen Umbruch in einem diktatorisch regierten Land mitzuerleben. Als ähnliche Dinge in Griechenland, Südkorea oder der DDR geschahen war ich noch zu jung, um etwas davon mitzubekommen.

Was ist überhaupt passiert ?
Nachdem ein arbeitsloser Akademiker sich aus Frust selbst angezündet hat begann sich die Wut der überwiegend jungen Bevölkerung (siehe Youth Bulge) gegenüber der politischen Situation zu entladen. Tunesien selbst wurde seit 1987 autokratisch von Ben Ali regiert. Es gibt Zensur, z.B. im Internet, keine Pressefreiheit, keine freien Wahlen etc.

Die Polizei ist gegen die Demonstrationen vorgegangen, was bis heute zu 130 Todesfällen geführt hat. Trotzdem (oder vielleicht auch grade deswegen) hat sich die Bevölkerung nicht einschüchtern lassen und weiterhin an ihren Demonstrationen festgehalten. Es wurden auch alle Schulen und Universitäten des Landes geschlossen und Ausgangssperren verhängt. Jedoch: Die Demonstrationen gingen weiter.

Mitte Januar haben sich die Ereignisse dann überschlagen:
Zunächst hat Ben Ali massive Zugeständnisse gemacht: Nicht nur sollten Pressefreiheit wiederhergestellt und die Zensur aufgehoben werden, er bot auch an, bei der nächsten Wahl nicht mehr anzutreten: Er war bereits 74 und wäre laut Verfassung nicht zu einer weiteren Kandidatur berechtigt gewesen, da er zum Zeitpunkt der Wahl über 75 wäre.

Kurz darauf hat er das Parlament aufgelöst und Ministerpräsident Ghannouchi mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragt. Dann flieht Ben Ali aus dem Land. Er hält sich vermutlich in Saudi-Arabien auf.

Momentan kommt es zu Plünderungen, wobei ich da auch schon gehört habe, dass dies nicht von der Bevölkerung kommt, sondern hauptsächlich von "Regierungstreuen", welche Chaos und Verwirrung stiften wollen.

(Das erstmal als kurzer Abriss, es ist auch ein bisschen Anachronisch, für eine detaillierte Berichterstattung der Ereignisse gibt es ja andere Quellen ;)

Interessant finde ich, dass Ben Ali für mein Verständnis relativ schnell auf seine Macht verzichtet hat. Üblicherweise erwartet man von Diktatoren, dass sie sich bis zum letzten Atemzug an ihren Status klammern. Ich war schon überrascht, dass Ben Ali der Verfassung gemäß auf eine weitere Kandidatur verzichten wollte. Das ist schon mehr, auf was die Demonstranten - meiner Ansicht nach - hoffen durften. Völlig von den Socken war ich dann, als es nur ein oder zwei Tage später hieß, Ben Ali wär geflohen. Vielleicht ist er aber auch einfach müde geworden. Es kommt einem fast so vor, als wäre er froh, endlich in Rente gehen zu können und seinen Lebensabend zu genießen.

Was wird nun in Tunesien passieren ?
Frau Merkel hat Tunesien Hilfe angeboten bei der Bildung einer stabilen Demokratie. Wird Tunesien von einer Diktatur zu einem freien Land werden ? Oder werden die alten Strukturen und die alten Seilschaften die Macht an sich reißen ?

Interessnt ist auch die Reaktion Gaddafis.
Obwohl Experten nicht glauben, dass die Proteste auf andere Länder der Region übergreifen hat Gaddafi schonmal angefangen die Demonstranten zu verurteilen. Ist natürlich ein ziemlich durchschaubares Manöver. Aber schön zu sehen, das Geddafi scheinbar in seinem Palast hockt und sich vor dem Volkszorn fürchtet.

Alles in allem ein eine denkwürdige Entwicklung, die man so nicht alle Tage erleben dürfte. Das zeigt aber auch wieder, dass (vermutlich) jede Diktatur irgendwann ein Ende hat. Man kann Völker einige Jahrzehnte unterdrücken, doch nicht für immer. Es bleibt auf jedenfall spannend und ich hoffe, dass die Tunesier die Freiheit und den Wohlstand bekommen, den sie verdienen.

Der junge Akademiker ist auf jedenfall jetzt schon ein Volksheld, schade, dass er sein Wirken nicht mehr selbst erleben kann.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Ohne allzu viel von Tunesien zu wissen, habe ich direkt befürchtet, dass die politische Instabilität und das Machtvakuum von irgendwelchen radikal-islamischen Spinnern genutzt werden könnte, um zu einem ähnlichen Unterdrücker-Regime wie im Iran zu werden. Das war meine erste Assoziation, als ich in den Nachrichten davon gehört hatte, dass der Präsident zurückgetreten sein soll - und dann wieder nicht - und dann wieder doch. Man weiß ja nicht genau, was dort passiert, weil bis vor kurzem kein Journalist frei dort berichten durfte.
Haben die auch gestern abend in den Tagesthemen noch gesagt.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Was derzeit in Tunesien passiert, ist nur ein weiterer Schritt in Richtung Demokratie. Das wird aber noch relativ lange dauern und viele weitere Menschen werden wohl für den weiteren Weg ihr Leben lassen.

Das war mehr oder weniger bei jedem Regimewechsel und/oder einer schnelleren Veränderung der Sozialstruktur so.

Dennoch glaube ich das Tunesien auf einem richtigen Weg ist und mit der Hilfe der EU + die weiteren touristischen Einnahmen, sowie im allgemein doch gute geographische Lage klappt das auch bestimmt.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Kormus schrieb:
Interessanter Titel. Spanglish much?

Super Beitrag, jetzt wissen wir alle, dass Du Spanisch sprichst.
Applaus, Applaus!


@Rollensatz:

Befürchtest Du nicht auch eine Islamisierung der Demokratiebewegung und damit eine spätere Unterdrückung des Volkes durch die Religion?
Würde mich sehr interessieren, wie hoch diese Gefahr speziell für Tunesien ist.
Wie gesagt kenne ich das Land weder touristisch noch sonstwie.
 
Zuletzt bearbeitet:
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Nossi schrieb:
Interessant finde ich, dass Ben Ali für mein Verständnis relativ schnell auf seine Macht verzichtet hat.

Das kann viele Gründe haben. So besonders schnell fand ich das auch nicht.
Man nehme an, er wollte sich sowieso schon bald zur ruhe setzen (is ja nicht mehr der jüngste)
Oder er will endlich mal seinen auf die Seite geräumten Reichtum geniesen.
Oder er war sich darüber im klaren, dass sich sein Land in Reichweite von Nato-Jets befindet. Und zwar ganz ohne die Hilfe von den Amis und deren Flugzeugträger.
Also ein perfektes Opferland für einen Kreuzzug, äh ich mein zum Entdiktatoriesieren.

Zur Zeit kann sich kein islamisches Land mit Diktatur irgendwelche Bürgerrevolten leisten, ohne befürchten zu müssen, dass sich die Amis oder Nato gleich einmischen.

Nossi schrieb:
Momentan kommt es zu Plünderungen..

Hm, das sehe ich allerdings nicht so gern.
Aber vielleicht ist das was psychologisches.
Ähnlich wie im Irak wo nach dem Sturz erstmal ein Machvakuum entstand.
Ich hoffe nur, dass das schnell wieder in die richtige Richtung gelenkt wird und sich keine radikalen Kräfte einnisten können.

Scheinbar werden dort auch in lynchjustiz Bürger von Bürgermilizien erschossen, wenn vermutet wird, dass jene dem alten Regime angehörten.
 
Zuletzt bearbeitet:
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Na dann bin ich mal froh, dass unsere deutsche Revolution ohne politische Säuberung und lynchjustiz ablief.
Also es geht auch ohne. Und deswegen kann man das aktuelle geschehen in Tunesien auch nicht gutheißen.

Von hier aus betrachtet.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Ich finde es Positiv

Das die Tunesier ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, besser als durch irgendeine Einmischung aus dem Ausland.

Ich hoffe nur das sie jetzt auch die richtigen Weichen für ihre Zukunft stellen werden. Und nicht so wie es chancaine geschrieben hat.
radikal-islamischen Spinnern genutzt werden könnte, um zu einem ähnlichen Unterdrücker-Regime wie im Iran zu werden.

Was mir Hoffnung gemacht hat war ein alter Mann in Tunis, der auf der Strasse Interviewt wurde der sagte nun müssen die Jungen Leute ihr Land aufbauen und das beste aus der Sache machen.

Ich hoffe echt das das den Tunesiern hilft in eine Moderne Gesellschaft und Nation zu werden.


Ich hoffe aber auch das diese Revolution auch als Vorbild für andere Islamische Länder dienen kann, so ähnliche wie die Französische Revolution in Europa als Katalysator diente.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

MrPsst schrieb:
Ich hoffe aber auch das diese Revolution auch als Vorbild für andere Islamische Länder dienen kann, so ähnliche wie die Französische Revolution in Europa als Katalysator diente.

Oh ja...ein schöner Traum! Lass ihn uns möglichst lange träumen und am besten nicht mehr daraus aufwachen:)
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

ich teile eher die befürchtung wie chancaine.

bis jetzt sind in jedem machtvakuum im nahen osten oder in arabischen ländern radikal-islamische gruppen gerutscht. die iranische revolution sollte ja ebenfalls die demokratie bringen, was daraus wurde sehen wir heute.

ich hoffe das die demokratischen strömungen stärker sein werden und falls nicht, dass die EU irgendwie darauf reagiert.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Reformen sind Revolutionen generell vorzuziehen, da hier kein Machtvakuum entsteht (von der ganzen Gewalt mal abgesehen, das sollte klar sein). Eine Reform läuft zwar langsamer, dafür kontrollierter ab. Nur hat ein totalitäres Regime für gewöhnlich alles andere im Sinn, als die Einleitung einer Reform. Deshalb - zunächst Bravo! für die mutigen Tunesier, die sich ihres Regimes entledigten. Der Erfolg einer Revolution ist nicht selbstverständlich, in Nordkorea bspw. wäre es völlig undenkbar. Allerdings stellt sich nun, wie chancaine schon bemerkte, die Frage, wer das Machtvakuum ausfüllt. Tunesien hatte eine kurze Phase der Demokratie, stand allerdings auch lange unter der Herrschaft des osmanischen Reichs, das zumindest kein Gottesstaat war.
Islamisten werden versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen, die Frage ist, inwieweit sie Fuß fassen können. Ich bin gespannt.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

wichtig wäre auch zu wissen wie radikal-islamische gruppen wie die muslimbruderschaft in tunesien vertreten sind. und wie schnell terrororganisationen einfluss gewinnen wird, wie al qaida im irak nach dem krieg.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Vielleicht liege ich da ja auch falsch, aber bislang ist mir Tunesien nicht als "Keimzelle des Islamismus" in Erinnerung geblieben. Von daher würde ich nicht denken, dass es automatisch zu einem religiösen Gottesstaat kommen muss, nur weil die Menschen dort Muslime sind. Das ist auch nichts weiter als ein Vorurteil.

Ich denke eher, dass Tunesien als Land, welches stark vom Tourismus profitiert allein deswegen einen eher gemäßigten Gang gehen wird, um westliche Urlauber nicht zu verschrecken.

Nicht vergessen werden darf hier ja auch, dass religiöser Fanatismus häufig aus einem Mangel von Wohlstand resultiert. Sollte es den Tunesiern gelingen, nun für eine gerechtere soziale Verteilung des Wohlstands zu sorgen und ein mehr an Freiheit für den kleinen Mann durchzusetzen, so haben "Brandstifter" in meinen Augen keine große Chance.

Und genau darum geht es ja bei den Protesten: Freiheit und Wohlstand.
Ich glaube nicht, dass diese Menschen, die jetzt schon soviel erreicht haben sich das wieder wegnehmen lassen, weil jemand von Allah predigt.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Wenn es wirklich zu einer Islamisierung der Revolutionsbewegung kommen sollte wird diese wohl aus den Nachbarländern gesteuert werden. Tunesien hat zwei Nachbarländern wo Islamisch-Fanatisch Gruppierungen stark vertreten sind.
Ich denke da vor allem an zwei Gruppierungen die beide auch schon gewalttätig(Bombenanschläge und ähnliches) aufgetreten sind.
Al-Qaeda Organization in the Islamic Maghreb die haben am 11.Dezember 2007 den Bombenanschlag in Algir verübt. Sind offiziell eine kleine Gruppe mit nur ca. 800 Mitgliedern erscheinen(zumindestens von außen) gut organsiert und haben vermutlich Interesse an Einfluß in Tunesien zu gewinnnen.
The Libyan Fighting Group aus Lybien sind politisch sehr organisiert und haben darin auch schon seit der Gründung 1995 Erfahrung. Wurde dazumals im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in Afganisthan gegründet und geben als ihr Ziel aus einen Islamischen Gottestaat in Lybien zu etablieren. Ich denke das die auch Interesse haben könnten an viel Einfluss in Tunesien.

Und die Geschichte zeigt das Revolutionen immer "gefährlich" sind, zuerst sind noch alle sehr optimistisch und glauben jetzt geht es ihnen schnell besser und dann kommt oft die Ernüchterung, weil es nicht so schnell geht auch wenn tolle Arbeit geleistet wird, bis alles was man sich erwartet sich verbessert.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

ich glaube die Leute sind zu aufgeklärt und die Beteiligung von verschiedenen Gruppen schon zu breit für eine radikale Islamisierung. Bin mal gespannt wie es weiter geht!!
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Es gibt gute Nachrichten was die Demokratisierung angeht.
In der Übergangsregierung befinden sich laut aktuellen Meldungen führende Regimegegner und Opposotionelle. Zwar gibt es auch "alte" Minister, die ihren Platz vorerst behalten dürfen, aber ich denke dass gehört auch zu einer Demokratie.

Hoffen wir nur, dass auch eine dementsprechende demokratische Wahl folgt.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

wichtig ist auf welchem posten die oppositionellen sitzen und ob sie demokraten sind.

die neuwahl im september (?) wird zeigen was aus dem land wird.
 
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Nachdem General Rachid Ammar als wichtige Figur beim Umsturz sich noch nicht eingemischt hat sind die momentanen Aussichten aufjedenfall psoitiv zu bewerten.
Bleibt zu hoffen das es so bleibt!
 
Zuletzt bearbeitet:
AW: Tunesien - Viva la Revolution

Was bei der Tunesien Debatte offensichtlich untergegangen ist oder man nicht betrachtet sind die Wikileaks US Depeschen, die das im tunesischen Volk vermutete Bild der Politik was man satt hatte endlich politisch und offiziell bestätigten und das Volk zum Auflehnen angeheizt hat. Link 1, Link 2.
Neben Island ist damit Tunesien das nächste ganze Land wo Wikileaks mit einen Beitrag für einen Wandel geleistet hat.

Das Anheizen wurde durch die Social Medias noch weiter genährt und der Ofen bleibt warm. Quelle.
In Ägypten gibt es ähnliche Spannungen, es dürfte sehr interessant werden wie die Situation dieser angespannten Länder sich entwickeln wird.

Das tunesische Volk hatte aber auch eine große Bonuskarte auf Ihrer Seite: Das Militär das eben nicht auf Seite des Präsidenten stand.

In Iran zum Beispiel stand das Militär und die Polizei hinter die Junta, der Protest trotz Vernetzung und Ausdauer konnte ohne Rückhalt von beiden Gewalten nicht ewig bestehen und noch weniger gewinnen.
 
Status
Für weitere Antworten geschlossen.

Ähnliche Themen

Zurück
Oben