quadratauge schrieb:
Also, dass es zahlreiche Branchen gibt, die die Digitalisierung komplett aussitzen wollten, kann ich mir fast nicht vorstellen.
Du glaubst gar nicht, was es alles in der Industrie gibt. Schrecklich und ständig hast du irgendwen Ü50 sitzen, der denkt, nur weil er das seit 30 Jahren macht sei er gut in seinem Job und bombardiert dich mit "was kostet das denn"-Fragen, um Neuerungen abzuwimmeln.
Bevor ich wieder mehr Richtung Forschung und raus aus der Industrie bin, habe ich im Automobilsektor gearbeitet. Allerdings nicht bei einem der großen Konzerne direkt, sondern einer Ausgründung für F&E bzgl. autonomes Fahren.
Im Vergleich zum Mutterkonzern gab es einige Benefits: Home Office, AT Verträge mit Dingen wie man arbeitet, wann man möchte (Deadlines & Ziele waren wichtig, Arbeitszeit weniger), Lohnabrechnung online, Urlaub online, signierte PDFs (in der Tat gar nichts ausgedrucktes jemals, abseits vom Arbeitsvertrag am Anfang) usw.
Der Laden wurde sehr effizient geführt. Nachteile dann aber natürlich auch: AT Verträge...also regelmäßig Überstunden, hohes Gehalt aber im Vergleich zu den Tarifverträgen im Automobilbereich halt auch nur über die Bonizahlungen mehr verdient, d.h. ständig Stress, ständig Evaluierung, ständige Verfügbarkeit für Meetings und Tests (passiert nicht jede Woche, aber man wusste z.B. nie im Voraus, wann ein neuer Prototyp auf einer Teststrecke für uns mal verfügbar war für KI-Tests, da die Autos und alles drumherum immer vom Mutterkonzern gemanaged waren).
Nun zum eigentlichen Teil: unser kleiner Schuppen für die F&E war voll durchdigitalisiert, aber auch nur weil man da von 0 gestartet ist. Beim Mutterkonzern bin ich bei den ersten Meetings fast vom Stuhl gekippt:
- für die Fertigungsprozesse (wir wollten wissen, welche Abweichungen wir erwarten können für sämtliche für uns relevanten Bauteile, die das Fahrverhalten, Luftwiderstand, Traktion, ... beeinflussen) gibt es keinen digitalen Prozess. Nichts. Du wirst von unterschiedlichen "Spezialisten" eingeführt, was in welchem Schritt passiert und welche Auswirkungen das hat. Für Fehler und Abweichungen gibt es PDF-Skizzen, die ausgedruckt werden und wo manuell drin rumgemalt wird, wo Fehler/Abweichungen aufgetreten sind.
- die Prototypen von unterschiedlichen Linien werden von unterschiedlichen Teams entwickelt und die benutzen alle unterschiedliche Tools. Es gibt nicht eine einzige gemeinsame Datenbank oder irgendwas anderes, wo alles zusammenläuft.
- die Steuersoftware vom Boardcomputer wird teilweise eingekauft...die Implikationen kann man sich vorstellen
- zusätzlich zu den Softwareproblemen ist Software-Dokumentation "ja nur ein Preisfaktor" in den Augen des oberen Managements. Jede kleinste Änderung selbst an der Karosserie wird zigfach ausgedruckt, unterschrieben und durch alle Möglichen Hände gereicht und abgeheftet aber um für die KI in individueller Frequenz z.B. Reifendruck auszulesen gibt es nicht mal eine einheitliche API, geschweige denn aktuelle Dokumentation (ist halt alles Flickenteppich und das Management versteht auch einfach nichts von ordentlicher Software => solange die LED bei zu wenig Reifendruck aufleuchtet und das funktioniert, ist ja alles in Ordnung)
- von Abgaswerten will ich gar nicht anfangen...eine Idee von uns war ein KI-Modus für umweltfreundliches / treibstoffsparendes Fahren => ich bin KI Entwickler und habe bis heute nicht verstanden, wie die Werte des Boardcomputers zustande kamen...gefühlt sind da Zufallsgeneratoren am Werk (wir messen halt nichts selbst, sondern sind nur digital zugeschaltet...insbesondere die Prototypenentwicklung ist quasi ein zweiter Boardcomputer, der einfach nur die vorhandene Sensorik ausliest und Kommandos senden kann - vereinfacht dargestellt)
Könnte quasi ewig damit weitermachen.
Spannend war der Job aber trotzdem. Autonomes Fahren kann, vor allem bei vernetzten Fahrzeugen, den Verkehr komplett revolutionieren und auch einiges für die Umwelt tun. Sowie für den persönlichen Luxus, wenn man mal nicht selbst fahren will oder während der Fahrt etwas anderes machen möchte.
Auch war man im Konzern zumindest so intelligent, die eigene Inkompetenz in Sachen Digitalisierung anzuerkennen und eben Tochterunternehmen zu gründen, die das dann übernehmen und weitestgehend unabhängig handeln.
Also Summa Summarum hat die Arbeit schon viel Spaß bereitet, aber in puncto Digitalisierung war der Mutterkonzern einfach nur eine einzige Katastrophe. Ich erinnere mich noch an mein erstes Test-Deployment in der Infrastruktur des Mutterkonzerns...wo man mit headless linux und docker arbeiten möchte und die SysAdmins allen ernstes erzählen, es gibt hier nur Win7, das ist alles was sie kennen und überhaupt wenn man etwas anderes einsetzen wollen würde, dann müsste das durch zig Abteilungen gehen und die IT Security muss das absegnen usw. usf.
Am Ende waren selbst simpelste Dinge ein einziger Krampf, sodass wir auf eigene Infrastruktur oder Cloud gesetzt haben.
Um nochmal auf deinen Satz zurück zu kommen:
quadratauge schrieb:
Also, dass es zahlreiche Branchen gibt, die die Digitalisierung komplett aussitzen wollten, kann ich mir fast nicht vorstellen.
...ich kann mir mittlerweile gar nicht mehr vorstellen, dass irgendein großer Konzern in Deutschland tatsächlich etwas von Digitalisierung versteht. Nach meiner Erfahrung und meinem Netzwerk würde ich mittlerweile behaupten, dass die Gegenbeispiele die Ausnahme sind und diese digitalen Vollkatastrophen bei den größeren Läden der Regelfall.