Teilautomatisiertes Fahren: 2.000 km mit E‑Klasse und Drive Pilot von Mercedes-Benz

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Nicolas La Rocco
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Der pedantische Autobahnfahrer

Obwohl das teilautomatisierte Fahren schon gut funktioniert, aber bei Weitem noch nicht an einem Punkt der vollständigen Autonomie angekommen ist, haben die Assistenzsysteme schon jetzt interessante positive und negative Auswirkungen auf Fahrer, Mitfahrer und andere Verkehrsteilnehmer, die sich mit zunehmender Verbreitung solcher Assistenzsysteme zunächst verstärken dürften, um dann später, wenn sie allgemein bekannt sind, in bestimmten Bereichen wieder abzuflachen.

Viel Ausstattung hilft viel

Zunächst einmal sorgt die Kombination aus allen Assistenzsystemen der E-Klasse für ein enormes Plus an Fahrkomfort. Dazu tragen allerdings auch Ausstattungsmerkmale wie massierende und belüftete Ledersitze mit aktiver Seitenstabilisierung oder eine sündhaft teure Musikanlage von Burmester bei. Die Preisliste der E-Klasse zählt so viele Extras, dass der Endpreis des Testwagens schließlich bei über 93.000 Euro liegt – wohlgemerkt für eine E-220-d-Limousine zum Basispreis von 47.124 Euro.

Das alles hat zur Folge, dass sich selbst Fahrten von 400, 500 oder mehr Kilometern wie ein kurzer Ausflug zum Supermarkt um die Ecke anfühlen. Obwohl man als Fahrer viel weniger zu beachten und reagieren hat, was von Außenstehenden fälschlicherweise mit Langeweile beim Fahren gleichgesetzt werden könnte, ist eben genau dies nicht der Fall, sondern die Ermüdung wird reduziert, weil sich statt auf Gas, Bremse, Schalten und Lenken viel mehr auf den eigentlich Verkehr konzentriert werden kann. Die Assistenzsysteme steigern somit nicht nur den Komfort, sondern auch die Sicherheit, wenngleich man davon weniger mitbekommt. In diesem Fall gilt: Wenn nichts passiert, haben die Systeme am besten gearbeitet.

German Precision trifft auf Realität

Das von den Assistenzsystemen ausgelöste stets korrekte Fahren, das immer haargenaue Halten an das Geschwindigkeitslimit und den Sicherheitsabstand, hat allerdings auch negative Auswirkungen, obwohl man ja eigentlich alles richtig macht. German Precision kennt eben auch ihre Grenzen, spätestens auf der Autobahn. Wer immer genau 50, 70, 100 oder – gar nicht auszudenken – in der Baustelle gar nur 40 oder 60 km/h fährt und sich pedantisch an alle Schilderangaben hält, wird schnell zum Arschloch der Autobahn, dem Vogel und Stinkefinger, die Scheibenwischer-Geste oder auch die Lichthupe und extrem dichtes Auffahren plötzlich viel häufiger begegnen.

Der beste Autobahnfahrer wird plötzlich zum Feind
Der beste Autobahnfahrer wird plötzlich zum Feind

Ein Exot im Land der besten Autofahrer

Selbst in seiner teilautomatisierten Ausführung ist das autonome Fahren noch ein Exot auf deutschen Straßen. Plötzlich trifft perfekt kalibriertes Fahrverhalten auf eine Herde von manuell gesteuerten Automobilen, deren Fahrer sich selten penibel an die Vorschriften halten. Denn die selbsternannte beste Autofahrernation der Welt ist nicht immer so gut, wie sie denkt, und fährt gerne zu schnell oder zu dicht auf.

Dort, wo es erlaubt ist, kann schnelles Fahren Spaß machen und daran erinnern, wie gut es Deutschland mit seinen Autobahnen hat. Geht es aber um geregeltes Fahren, ist man mit 110 bei erlaubten 100, 90 bei erlaubten 80 km/h in Deutschland besser beraten. Plötzlich schleicht sich das Gefühl ein, etwas falsch zu machen und doch besser mit dem Schwarm zu schwimmen, als der German Precision treu zu bleiben. Wenn auf der Berliner A100 in Richtung A113 in einer Baustelle nur noch 40 km/h erlaubt sind und die E-Klasse notorisch auf diese Geschwindigkeit regelt, stellt sich auch beim Fahrer das mulmige Gefühl ein, damit etwas falsch zu machen.

Die Angleichung kommt im Laufe der Zeit

Wenn im Laufe der Zeit immer mehr teilautomatisierte und irgendwann auch autonome Fahrzeuge auf deutschen Straßen unterwegs sind, dürften sich diese Zustände und das Verhalten der anderen Autofahrer zum Positiven entwickeln. Zunächst wird es aber wahrscheinlich erst noch einmal schlimmer werden, bevor es dann besser wird. Immer mehr sich selbst steuernde Automobile treffen auf solche, die noch nicht mit entsprechender Technik ausgestattet sind, bis sich schließlich das Blatt wendet und die klassisch gesteuerten Fahrzeuge in der Unterzahl sind. Dass bis dahin noch viel Zeit verstreichen wird, liegt nicht nur an der aktuellen Gesetzgebung, sondern auch an der noch nicht angepassten Infrastruktur sowie der Tatsache, dass die benötigten Technologien immer erst in den teuren Fahrzeugklassen zum Einsatz kommen, bevor sie massentauglich für wenig Geld auch in günstigen Pkw erhältlich sein werden.