Hallo Leute!
Ich möchte mich hier nicht an der Diskussion beteiligen, die größtenteils aus anderen Threads in diesen herüber geschwappt ist, sondern einfach mal schildern, was der 11. September für mich bedeutet und wie ich den Jahrestag vorgestern empfunden habe. Wenn sich daraus weitere Diskussionsansätze ergeben: bitte schön! Falls nicht: auch gut.
Der Einschlag der beiden Verkehrsflugzeuge in das World Trade Center war mit Abstand das Ereignis, was mich persönlich am tiefsten getroffen hat. Wahrscheinlich aus dem Grund, daß alle anderen Katastrophen, die ich in meinem Leben mitbekommen habe, auch die, die eine wesentlich höhere Anzahl von Opfern gefordert haben, irgendwie in einen - sofern von Menschen verursacht - Zusammenhang gestellt werden können, der sie für mich zwar nicht verständlich, aber zumindest erklärbar gemacht hat. Andere Katastophen hingegen, die auf Unfällen oder Naturereignissen beruhen, sind zwar ebenfalls schrecklich, aber als Zufälle, höhere Gewalt oder wie auch immer letztlich unvermeidbar und damit für mich akzeptierbar.
Die Fassungslosigkeit, das blanke Entsetzen und auch die Wut darüber, daß hier unzählige Menschen von einer Handvoll Fanatikern einfach so, ohne Sinn, ohne einen für mich nachvollziehbaren Erklärungsansatz um´s Leben gebracht worden sind, diese Gefühle, die mir einige Tage lang fast jeden klaren Gedanken aus dem Hirn geblasen und mich fast wie einen Roboter durch die Gegend laufen gelassen haben, das kommt jedesmal wieder, wenn ich die Bilder des 11.09.01 sehe. Und ich weiß, daß es sehr sehr vielen Menschen ähnlich ergangen ist. Die, die ich kenne, bestätigen mir das auch im Gespräch, und bei den anderen schließe ich vergleichbares aus den Fernsehbildern der nachfolgenden Tage, mit hundertausenden Menschen allein in einzelnen deutschen Städten und Abermillionen von Menschen weltweit, deren Gesichter Bände sprachen.
Die Trauer, das Mitleid mit den Angehörigen, das kam bei mir erst viel später. Ich kenne zwar Leute, die wiederum Opfer des 11.09.01 gekannt haben, aber für wirklich tief empfundene Trauer reichte das nicht aus, da ich nur Menschen, die ich gekannt habe, wirklich betrauern kann.
Dieser Blick in den Abgrund menschlicher Perversität, in die Fratze des Bösen, das auch jegliche Relativierungsversuche verbietet, läßt auch heute noch meinen Magen verkrampfen, wenn ich die Bilder sehe. Da bin ich ggf. anders gestrickt als viele andere Menschen, die sich vielleicht auch zum Selbstschutz mit einer Hülle aus Gleichgültigkeit oder auch Zynismus umgeben haben.
Das war auch kein Angriff auf die USA (das paßt eh nicht, weil Menschen aus ca. 100 Nationen, darunter auch 13 Deutsche, bei den Anschlägen getötet wurden), das war ein Angriff auf alle Menschen, die in Freiheit leben wollen und sich eben nicht von einer Clique wie auch immer gearteter Extremisten vorschreiben lassen wollen, wie sie zu leben, was sie zu denken, zu glauben, zu tun, zu sagen und auch zu lassen haben. Und damit eben auch ein Angriff auch mich persönlich, auf meine Freunde und meine Familie. Ganz konkret: Hat jemand das Recht, meine beiden kleinen Nichten in ihrem späteren Leben nur in blauen Zelten herumlaufen zu lassen, wie es ja offensichtlich der Vorstellung der Taliban entspricht? Klare Antwort: Nein! Und wenn jemand mit Gewalt versucht, diese Dinge durchzusetzen, dann muß man sich dagegen zur Wehr setzen, und das notfalls ebenfalls mit Gewalt.
Vor einem Jahr habe ich meinen alten Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer mal wieder vorgenommen, und habe festgestellt, daß ich diesen so heute nicht mehr geschrieben hätte. In den 80ern zur Zeit des kalten Kriegs paßte der noch, heute nicht mehr.
Für mich war das ein Zeitpunkt, wo ich mich notgedrungen entscheiden mußte, auf welcher Seite ich stehe. Und dort gibt es in der Tat nur schwarz und weiß: Entweder man läßt diese Leute gewähren, oder man tut das eben nicht.
In den vergangenen Monaten habe ich jedoch unterschwellig zunehmend vermieden, mich den Bildern des Entsetzens zu stellen. Das heißt, ich habe weggesehen, umgeschaltet, was auch immer, um den Tritt in den Magen eben nicht spüren zu müssen. Und so habe ich den Jahrestag ganz bewußt genutzt, mich wieder den Bildern und damit auch meinen Gefühlen zu stellen, und ich stelle fest: für mich hat sich nichts, aber auch gar nichts, geändert.
Über die mediengerechte Inszenierung des Jahrestages kann man geteilter Meinung sein, aber wie will man auf der anderen Seite Millionen von Menschen an der zentralen Gedenkfeier am Ground Zero teilhaben lassen? Menschen, die als Folge der Anschläge auch über Religions- und Nationalitätsgrenzen hinweg zusammengerückt sind, ähnlich wie wir es in Deutschland auf viel kleinerem Niveau nach der Flutkatastrophe erst vor wenigen Wochen erlebt haben? Menschen, denen die persönliche Teilnahme an den Trauerfeiern verwehrt ist, denen diese Rituale - wie jeder Hobbypsychologe weiß - gleichwohl helfen?
Daran - wie hier geschehen - die übliche einseitige USA-Kritik festmachen zu wollen, halte ich jedenfalls für reichlich unangemessen.
Ciao, Tiguar
[EDIT] ein paar Tippfehler ... [/EDIT]