Kommentar: Die Branche hat Retina verpennt

Jan-Frederik Timm
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Kommentar: Die Branche hat Retina verpennt
Jan-Frederik Timm

MacBook Pro mit Retina

Da ist es, das weltweit erste Notebook mit einer Auflösung von 2.880 × 1.800 Pixeln. Nicht von Samsung, nicht von HP, nicht von Asus... nein, von Apple. Apple? Nicht schon wieder, wird es bei den Konkurrenten unisono heute Abend weltweit erklungen haben! Denn den Rest der Branche hat es mal wieder auf dem falschen Fuß erwischt. Kein ähnliches Display weit und breit. Eiskalt überrascht. Doch, halt, hat es das?

Mitnichten! Apples Schritt, neben iPhone und iPad ab sofort auch eine erste Variante des MacBook Pro mit ultra-hochauflösenden Displays auszurüsten und mit diesem Schachzug alle Augen auf sich zu vereinen, war nämlich vor allem eins: Vorhersehbar.

Seit Apple das iPhone 4 mit dem bis dato hochauflösendsten Smartphone-Display aufgelegt hat, war klar, dass das nur ein erstes Vorgeplänkel in einem wahren Feldzug gewesen ist. Wie ein Mantra hat der Konzern, damals noch geführt durch Steve Jobs, das Display zu der entscheidenden Schnittstelle zwischen Nutzer und Gerät ausgerufen. Das Display wurde von Apple in aller Öffentlichkeit zum strategischen Eckpfeiler erklärt. Und erhielt mit „Retina Display“ auch gleich einen eingängigen Namen. Am Ende dauerte es zwar gut ein Jahr länger als ursprünglich erwartet, bis auch das iPad mit einem Retina-Display ausgerüstet wurde. Eine Überraschung war aber schon dieser Schritt nicht.

Das Display als strategisches Verkaufsargument. iPhone und iPad mit „Retina“ – wer hier eins und eins zusammen zählt, der kommt schnell auf den Trichter, dass MacBook (und iMac) die nächsten Kandidaten sind. Ein Konkurrent, der diesen Schritt kommen sieht, sollte vorbauen – es sei denn, er wiegt sich auch ohne Gegenmaßnahmen in Sicherheit.

Davon konnte insbesondere bei Notebooks zuletzt aber keine Rede sein. Dutzende Windows-Notebooks haben wir die letzten Jahre getestet, mal mit größeren, mal mit kleineren Bildschirmdiagonalen. Stets haben wir, weil es für die meisten unserer Leser eines der wichtigsten Kaufkriterien ist, viel Augenmerk auf den verbauten Bildschirm gelegt. Und in der Regel, nicht in der Ausnahme, wurden wir und unsere Leser enttäuscht. Immer häufiger verlangten Kunden darüber hinaus nach einer Bildqualität, die heute auf Smartphones (nicht nur dem iPhone 4 (S) ) und dem neuen iPad gängige Praxis ist. Der Markt verlangt nach mehr, die Branche konnte und durfte Apples Schritt nicht untätig entgegen sehen. Doch sie hat es getan. Warum?

Die Antwort auf diese Frage lässt sich zugespitzt wie folgt formulieren: Weil sie einmal mehr ihre sich selbst auferlegten Fessel nicht ablegen konnte. Drei Punkte sind hierbei explizit zu nennen:

  1. Das eigene Produktportfolio
    Bei der Vielzahl an Notebooks im eigenen Portfolio ist es schwer, markante Akzente zu setzen. Überspitzt ausgedrückt gehen Highlights wie ein weltweit einzigartiges Notebook-Display im Wust der Modelle und deren Konfigurationen schnell unter. Ein Feature wie Apples „Retina“-Display lässt sich für Samsung, Asus und Co. so nur schwer mit einer vergleichbaren Aufmerksamkeit und Klarheit am Markt platzieren. Die Masse der Geräte hat ihre Vorteile, auch Samsung, Asus und Co. machen jede Menge Umsatz und Gewinn. In genau so einem Fall ist die schiere Masse an Produkten allerdings hinderlich.
  2. Der Preispunkt der eigenen Geräte
    Der brachiale Konkurrenzkampf auf dem Notebookmarkt (im Wesentlichen Windows-Notebook-Markt), über Jahre durch Netbooks und später Tablets angefacht, hat die Preise für Windows-Notebooks außerhalb der Business-Welt drastisch fallen lassen. Hochauflösendes Displays haben aber ihren Preis. Auch wenn ein hochauflösendes Display deutliche Vorteile bietet, ist der Preisaufschlag in den unteren Preisgefilden in der Regel zu hoch. Denn der Preis des neuen MacBook Pro mit Retina-Display in der kleinsten Konfiguration hat sich gewaschen: Rund 2.300 Euro verlangt Apple. Das sind Preisregionen, die in der „Windows-Notebook-Welt“ heutzutage in der Regel nicht mehr am Markt durchsetzbar sind – egal mit welchen Features.
  3. Die Software
    Mit Windows 8 wird alles besser. Höhere Auflösungen? Kein Problem mehr. Das einzige Problem: Windows 8 gibt es noch nicht. Selbst wenn schon in Kürze erste Windows-Notebooks mit Auflösungen von 2.880 × 1.800 Pixeln auf den Markt kämen, auf einem 15-Zoll-Display nutzen lässt sich diese noch nicht. Die aktuelle Windows-7-GUI ist dafür nicht ausgelegt. So vorteilhaft es in vielen Situationen ist, Software und Hardware getrennt voneinander entwickeln bzw. sich auf eins von beiden konzentrieren zu können, in diesem Fall zeigt sich einmal mehr ein gravierender Nachteil.

Alle drei Punkte haben allerdings nicht nur dazu geführt, dass Apple – wie beim iPhone oder beim iPad – abermals den Markt als erster für sich besetzt und alle zukünftigen Offerten „nur Nachzügler“ darstellen. Auch machen sie eine schnelle Reaktion nahezu unmöglich.

Natürlich ist damit weder der Untergang der Windows-Notebook-Branche besiegelt und Apple wird mit den weniger hoch auflösenden Modellen in Zukunft weiterhin mehr Umsatz machen als mit dem einen Retina-Modell. Die Aufmerksamkeit und der innovative Ruf sind dem Unternehmen abermals gewiss.

Im Anschluss an die heutige Produktankündigung könnte man Apple für diesen Schritt also abermals ein Lob aussprechen. Schließlich sprechen die mittlerweile schon über 150 Kommentare zu unserer Meldung zum neuen „Retina-MacBook“ überwiegend eine deutliche und vor allem vorhersehbare Sprache. Ja, man könnte. Zwingend erforderlich ist allerdings ein kritischer Fingerzeit in eine andere Richtung: An die versammelte Konkurrenz. Denn die hat es nicht geschafft, trotz eindeutiger Vorzeichen und den zu erwartenden Konsequenzen mit einer Gegenmaßnahme parat zu stehen. Die Quittung kommt in Form einer harten Erkenntnis: Egal, wie ausgefallen die erst in der letzten Woche zur Computex vorgestellten Note- und Ultrabooks auch gewesen sind; in Bezug auf das Display sind sie mit dem heutigen Tage schon vor der Markteinführung nicht nur nicht mehr „nur in Ordnung“, sie sind meilenweit entfernt vom derzeit technisch Möglichen.

Und, liebe versammelte Konkurrenz mit eurem Partner Microsoft, eins ist gewiss: Das hier ist nicht das Ende der Fahnenstange. Die nächsten Evolutionsschritte sind heute mehr denn je gesetzt: MacBook Pro (Rest), MacBook Air, MacBook, iMac. Es ist höchste Zeit, die Fesseln abzulegen, um diesen Ereignissen am Horizont nicht erneut mit leeren Händen entgegen treten zu müssen.

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