Kommentar: Shitstorm ist gut, Lehren daraus zu ziehen ist besser

Jan-Frederik Timm
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Kommentar: Shitstorm ist gut, Lehren daraus zu ziehen ist besser
Jan-Frederik Timm

Der bekannte YouTube-Tech-Kanal Hardware Unboxed hat auf Twitter öffentlich gemacht, dass Nvidia die Bemusterung mit Founders Editions einstellt*, weil in den Tests zu wenig Fokus auf Raytracing gelegt wird. Das publik zu machen, ist richtig. Doch der Shitstorm allein macht die Zukunft nicht besser.

PR und Unabhängigkeit sind keine Freunde

Dass Firmen ihre Produkte, insbesondere die, die sie einem exklusiven Kreis an Medien vorab anvertrauen, nicht nur einem breiten Publikum, sondern auch im besten Licht zeigen wollen, ist nachvollziehbar und nicht neu. Ebenso nicht neu ist der Anspruch, dem sich jeder, der sich der „Unabhängigkeit“ verschrieben hat, unterordnet: Berichtet wird ohne Einflussnahme im Sinne der Leser. Konflikte sind da vorprogrammiert.

Wer sich für unabhängig hält, und wir tun das, darf diese Konflikte nicht scheuen, auch wenn es für uns im Umgang mit Herstellern damit dazu gehört, das eigene Vorgehen und eigene Prioritäten mit Verweis auf den Wunsch der Leser, dem Kunden, teils immer und immer wieder zu erörtern, ja das ein oder andere Mal auch im Sinne der Leser zu verteidigen.

Wir sehen diese Diskussion für sich genommen nicht als Einflussnahme an. Sofern wir dem Leser am Ende das liefern können, was unseren Vorstellungen entspricht, schreiben wir unter einen Artikel „Eine Einflussnahme des Herstellers oder eine Verpflichtung zur Berichterstattung bestand nicht.“ und meinen das auch so.

Hardware Unboxed sieht das genauso und hat den eigenen Testparcours nicht anpassen wollen, weil sie das redaktionell als falsch erachtet haben. Nvidia hat daraufhin angekündigt, vorerst keine Founders Editions mehr unter NDA zur Verfügung zu stellen (und diese Entscheidung inzwischen revidiert).

Hersteller müssen sich wieder weniger erlauben können

Das ist Nvidias Recht, genauso wie es das Recht von Hardware Unboxed war, darüber zu berichten. Und offensichtlich lag die Redaktion in Bezug auf die eigenen Leser richtig.

Das Problem: In Zeiten global skalierender neuer Verbreitungskanäle mit neuen Gesichtern und Publikationen, die mit Hardware unter NDA auf sich aufmerksam machen können, und einem generellen gesellschaftlichen Vertrauensverlust fällt es Unternehmen immer leichter, Partner zu finden, die es mit der Unabhängigkeit nicht ganz so genau sehen. Und die anderen damit direkt oder indirekt unter Druck zu setzen – auf zunehmend verlorenem Posten.

Maximale Empörung allein reicht nicht

Daher heißt es für alle Beteiligten weltweit jetzt nicht nur dem Shitstorm mit maximaler Empörung beizutreten, sondern in Zukunft auch für das, was kritisiert wird, dauerhaft und hinter den Kulissen ohne die gerade gebotene Bühne einzustehen.

Am Ende ist es nicht der kurzfristige Shitstorm, der die Einflussnahme von Herstellern langfristig ändern wird, sondern der Mut aller potentiellen Partner zur Diskussion mit einem Hersteller für die Sache an sich: Leser unabhängig zu informieren. Auch wenn das heißt: Nein, lieber Hersteller, darüber berichten wir nicht. Nein, lieber Hersteller, der Parcours sieht so aus und nicht anders. Nein, lieber Hersteller, nur weil andere den schlechten Test nicht gebracht hätten, bringen wir den trotzdem.

Das bedeutet in unseren Augen nicht, jeden Diskurs öffentlich zu machen. Aber wenn ein Hersteller in Folge der Diskussion Konsequenzen zieht, die gegen den Willen der Redaktion und damit deren Leser verstoßen, muss man darüber reden können.

Wann ein Hersteller die rote Linie überschritten hat, muss jede Redaktion für sich selbst entscheiden, das Thema, die Umstände und die Personen sind nie dieselben. Die Leser müssen sich wiederum entscheiden, ob sie einer Redaktion in diesem Punkt vertrauen.

Unabhängigkeit braucht Leser und Geld

Dieser letzte Punkt ist entscheidend, wenn auch nicht minder kompliziert: Hersteller haben und werden immer reichweitenstarke Partner finden, die es mit dem unabhängigen Berichten nicht so genau nehmen, oder die eigene Meinung mit dem eigenen Gesicht „nur für Produkte, die sie auch gut finden“ sogar gegen Geld ins Netz stellen. Nur wenn Leser diesen Unterschied auch weiterhin erkennen und „Infotainment“ nicht als freie Presse ansehen, werden unabhängige, finanziell nicht an inhaltliche Versprechen gebundene Redaktionen auch weiterhin Unternehmen Kontra geben und frei berichten können.

Andernfalls ist der nächste Shitstorm bereits heute vorprogrammiert und hinter den Kulissen ändert sich nach kurzer Übergangsphase wenig bis nichts.

* Ergänzung vom 12. Dezember 2020: Nvidia hat die Entscheidung inzwischen zurückgenommen.

Hinweis: Der Inhalt dieses Kommentars gibt die persönliche Meinung des Autors wieder. Diese Meinung wird nicht notwendigerweise von der gesamten Redaktion geteilt.