Neverwinter im Test: Das Do-It-Yourself-MMORPG

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Sasan Abdi
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Neverwinter auf einen Blick

„Neverwinter“ ist nach „Star Trek Online“ der nächste MMO-Anlauf der Cryptic Studios. Dieser Umstand ist gleich zu Beginn erwähnenswert, weil man sich in Erinnerung rufen muss, dass die Güte des Weltraum-MMOs insbesondere in den Wochen nach der Veröffentlichung zu wünschen übrig ließ. Auch wenn sich diese Güte über die Zeit hinweg verbessert hat: Man durfte allein schon deswegen skeptisch sein, ob „Neverwinter“ überzeugen würde.

Zumindest ambivalent stimmte zudem, dass der zunächst unter Atari entwickelte und nun unter Perfect World vollendete Titel erst mit dem Publisherwechsel zum Free-to-Play-Spiel umdeklariert wurde. Diese Entwicklung ist für die potentielle Spielerschaft einerseits Grund zur Freude, andererseits lag parallel zu dieser Ankündigung sofort der typische „Pay-to-Win“-Geruch in der Luft.

Dieser in einem eigenen Abschnitt behandelte Geruch ist zumindest zu Beginn von „Neverwinter“ erstmal verflogen. Nach dem Gratis-Download des gut drei Gigabyte schweren Clients, der Installation und der Wahl eines von drei identischen Shards darf man sich erwartungsgemäß auf die Charaktererstellung stürzen. Zum Start stehen dazu zunächst fünf Klassen zur Verfügung, die in der Zukunft ergänzt werden sollen und denen die Herkunft aus dem „Dungeons & Dragons“-Rollenspielwerk (DnD) und der „Forgotten Realms“-Spielwelt sofort anzumerken ist.

Neverwinter im Test

Da ist der Beschützende Kämpfer, der sich dank seiner satten, auch über einen Schild erreichten Panzerung und abwehrenden Techniken wie dem Schildschlag hervorragend als Frontkämpfer und Verteidiger eignet. Ihm zur Seite steht der Zweihandwaffenkämpfer, der den Schild zugunsten von maximalem Schaden beiseite lässt und beispielsweise per Schlagwirbel ganze Gegnerscharen beschäftigen kann. Der Taktischer Magier ist dagegen ein in zweiter Reihe stehender Fernkämpfer, der dem Feind nicht nur mit Zaubern schaden, sondern ihn kurzfristig auch kontrollieren kann. Dessen Pendant ist wiederum der Glaubenskleriker, der weniger die Gegner und mehr die Mitstreiter im Auge hat und diese mit Schutz- und Heilzaubern unterstützen kann. Abgerundet wird der Klassenreigen schließlich vom ebenfalls obligatorischen Schurken, der als beweglicher Klingennahkämpfer einige Verwirrung stiften kann.

Über die Klasse hinaus kann man an dieser Stelle auch das Geschlecht sowie die Rassenzugehörigkeit auswählen, wobei mit Menschen, Halblingen, Halbork, Elf, Halb-Elf, Drow, Zwerg und Tiefling ebenfalls ein guter Teil der erwartbaren Palette zur Verfügung steht. Nachdem die grundlegenden Charakterpunkte ausgewürfelt sind, kann man schließlich angenehm detailliert Hand an die äußeren Merkmale anlegen sowie eine angebetete Gottheit und eine Mini-Biographie festlegen, wobei letztere Mitstreitern im Spiel angezeigt wird.

Auch in puncto Story orientiert sich „Neverwinter“ – der Name sagt es – an DnD und „Forgotten Realms“. Dementsprechend wird man gleich nach der Charakterstellung in die gleichnamige, bestens bekannte Metropole entlassen, wobei viele Geschehnisse aus dem Universum teils implizit, teils explizit eingebaut sind. Dennoch macht sich insgesamt durchaus bemerkbar, dass „Neverwinter“ als Stand-Alone-Titel umgesetzt wurde, der zwar anschließt, aber keinesfalls als direkte Verknüpfung, beispielsweise mit den älteren Spielen der Marke, zu verstehen ist.

Aus diesem Grund werden Kenner immer wieder über bekannte Namen und Gegebenheiten stolpern; doch auch Neulinge werden sich gut zurecht finden, da die Geschehnisse einfach und transparent gehalten sind: Neverwinter wird von einer dunklen Macht, Orks und Rebellen in die Zange genommen – klar, dass es unter anderem am Spieler ist, diese Zange zu lösen und die dahinterstehenden Machenschaften aufzuklären.

Als Spielwelt stehen dabei zum Start die unterschiedlichen Stadt-Distrikte sowie die direkte Umgebung von Neverwinter zur Verfügung. Diese sind in einzelnen Outdoor-Instanzen organisiert, auf denen man parallel zu zahlreichen anderen Spielern Aufträgen nachgeht, Waren handelt und auf Erkundungstour geht. Als Hub dient dabei das Zentrum der Metropole, das die meisten Händler aber auch andere wichtige Institutionen wie die Gildenzentrale beherbergt.

Innerhalb der einzelnen Areale finden sich wiederum zahlreiche Eingänge zu separaten Dungeons, die als eigene Schlauchlevel-Instanzen organisiert sind und sowohl solo als auch im Gruppenspiel betreten werden können. An dieser Stelle kann der erste Kritikpunkt angebracht werden, denn während die Outdoor-Gebiete durchaus zur Mobjagd und Erkundung einladen, fallen die Indoor-Dungeons, die uns bisher untergekommen sind, häufig allzu schlauchig aus. In Kombination mit explizit markierten interaktiven Gegenständen und einer clever integrierten, aber stark vereinfachenden Zielfindung per Knopfdruck kommt so sehr wenig Erkundungsdrang auf, sodass der Schwerpunkt noch eindeutiger auf dem gleich noch näher zu thematisierenden Faktor „Action“ liegt.

Zu Beginn wird der durchaus spürbare Spieltrieb deswegen vor allem durch die inhaltlichen Elemente getrieben. Positiv fällt dabei auf, dass Cryptic gerade zu Beginn ganz offensichtlich einige Zeit in diesen Aspekt investiert hat, sodass man sich über spannend eingebundene Standard-Quests freuen darf. Diese bieten zwar von der Mechanik her die klassischen MMORPG-Aufgaben à la „suche <Anzahl> von <Gegenstand>“ oder „töte <Anzahl> von <Gegnertyp> in <Gebiet>“, doch fällt die aus dieser Ecke drohende Monotonie dank der ansprechenden inhaltlichen Einbindung – man jagt zum Beispiel die Diebe der Neverwinter-Krone – weniger auf.

Die Spielinhalte für die ersten zehn, fünfzehn Stunden sind also durchaus vorhanden, sodass man sich nur noch sorgen um die Endgame-Inhalte machen muss, die sich in den kommenden Wochen auch im Falle von „Neverwinter“ noch als Achillessehne des Spiels entpuppen könnten. Für die Zeit zwischendrin hat Cryptic aufbauend auf eine ähnliche Konzeption in „Star Trek Online“ eine clevere „Do-It-Your-Self“-Funktion integriert: Die Foundry.

Neverwinter im Test
Neverwinter im Test

Bei der Foundry handelt es sich im Prinzip um einen einfachen aber durchaus potenten Quest-Editor, mit dem zum Beispiel Pen-and-Paper-Freaks ihre Szenarien kurzerhand in spielerische Realität umsetzen können. Die Idee dahinter ist einfach, bestechend, aber auch gefährlich: Nicht nur die Betreiber, auch die Spieler liefern Inhalte.

„Einfach“ ist das Prinzip, weil ein Teil der Verantwortung kurzerhand an den ambitionierten Teil der Spielerschaft delegiert wird. „Bestechend“ ist daran, dass die Fülle an Inhalten dadurch unter Umständen massiv erweitert wird. „Gefährlich“ ist wiederum, dass Cryptic die Spieler möglicherweise von vornherein oder aber im weiteren Verlauf als Haupt-Contentlieferanten sieht – und sich einfach zurücklehnt.

Für letzteres gibt es bisher keine handfesten Beweise, sondern nur theoretische Überlegungen, sodass fürs Erste der positive Eindruck überwiegt. Dieser rührt daher, dass die Erstellung nicht nur recht einfach von der Hand geht, sondern die Foundry auch in puncto Qualitätssicherung zu funktionieren scheint, wobei diese nicht nur von Cryptic, sondern vor allem ebenfalls von der Spielerschaft geleistet wird: Über Stern-Bewertungen können in der Foundry erstellte Quests nach oben oder nach unten gewählt werden, was wahrscheinlich den besten Mechanismus darstellt, um die Güte der Inhalte hoch zu halten.

Dabei wird den Erstellern abgesehen davon, dass bisher keine PvP-Inhalte erstellt werden können, tatsächlich freie Hand gelassen, sodass keine inhaltliche Limitierung oder gar Kopplung an Bezahlmechaniken vorhanden sind. Als einzige sinnvolle Einschränkung fällt auf, dass die platzierten Items per Zufall ausgewürfelt werden, was verhindern soll, dass sich Spieler durch ihre eigenen Quests farmen.

Die so erstellten, aber auch die von Cryptic bereitgestellten Inhalte können je nach Anlage entweder alleine oder in einer Gruppe gespielt werden. In letzterem Zusammenhang lassen sich Mitstreiter neben dem Sprach- und Textchat relativ komfortabel über eine integrierte Gruppenfindung suchen. Darüber hinaus werden immer mal wieder PvE-Events angeboten, die in einem eigenen Kalender zusammengefasst sind und man kann sich in der PvP-Arena gegen echte Spieler beweisen.

„Neverwinter“ bietet formal somit alles, was man von einem MMORPG im Jahr 2013 erwarten darf – und übertrumpft den Status quo dabei mit der auf den ersten Blick gut gelungenen Foundry. Doch wie steht es um das Herz, das Spielen selbst? In dieser Hinsicht lässt sich sagen, dass Cryptic wie bereits angedeutet klar auf Action setzt.

Aus diesem Grund, und hier findet sich für manchen DnD-Veteranen die vielleicht wichtigste Information, weicht „Neverwinter“ beim Kampfsystem trotz der angeblich engen Zusammenarbeit mit den DnD-Regelwerkhütern von Wizards of the Coast spielerisch stark vom taktischen Pen-and-Paper-Vorbild ab. Dementsprechend wird Schaden hier nicht ausgewürfelt und die Kämpfe finden nicht statisch bzw. per „Auto-Attack“ statt. Stattdessen rennt man fast schon in Egoshooter-Manier durch die Dungeons und fokussiert mit Maus und Fadenkreuz die Gegner, um dann über einen Maus- oder Tastendruck Attacken zu starten.

An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass es Cryptic auf eine leichte Zugänglichkeit abgesehen hat, denn wer ein „Call of Duty“ beherrscht, wird auch sofort in „Neverwinter“ zurecht kommen. Das liegt auch daran, dass man im Spiel nur über sechs aktive Fähigkeiten verfügen kann, die auf Maus 1 und 2 sowie rund um die WASD-Tasten zur Bewegung gelegt sind. Statt einer langen Leiste voller unterschiedlicher Skills heizt man den Gegnerscharen deswegen wild E, R, Q drückend ein, was nicht per se schlecht sein muss, klassischen MMORPG-Freunden aber unter Umständen zu arcadig sein dürfte.

Neverwinter im Test
Neverwinter im Test

Und auch bei der Entwicklung der Fähigkeiten folgen die Entwickler dem „keep it simple“-Ansatz. Viel Hirnschmalz muss deswegen nicht investiert werden, da der Skillbaum sehr übersichtlich ausfällt: Mit jedem Stufenaufstieg kann eine Fähigkeit aufgewertet werden, wobei weitere, stärkere Fähigkeiten erst in höheren Levels zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund fallen die Gedankengänge beim Upgrade sehr einfach aus, da man sich nur überlegen muss, in welche der vorhandenen oder für welche der neuen Fähigkeiten die Punkte investiert werden sollen.