Chatkontrolle: EU-Innenminister wollen sich nicht überwachen lassen

Michael Schäfer
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Chatkontrolle: EU-Innenminister wollen sich nicht überwachen lassen
Bild: USA-Reiseblogger | gemeinfrei

Die Groteske rund um die Chatkontrolle nimmt kein Ende. Nun wollen EU-Minister sich selbst von der Überwachung ausnehmen, doch nicht nur für sie soll die von der EU-Kommission geplante Kontrolle nicht gelten, auch andere Träger von „Berufsgeheimnissen“ sollen laut einem neuen Entwurf nicht unter das Gesetz fallen.

Dies berichtet Patrick Breyer, Europaabgeordneter der Piratenpartei, in einem aktuellen Blog-Beitrag unter Berufung auf den vom Informationsdienst Contexte veröffentlichten neuen Gesetzesentwurf zur Chatkontrolle (PDF). Ihm zufolge sollen Angehörige von Sicherheitsbehörden wie Geheimdienste, Polizei und Militär von der geplanten Überwachung ausgenommen werden. Die Verordnung soll auch auf „vertrauliche Informationen“ wie Berufsgeheimnisse keine Anwendung finden, unter die auch Anwälte und Ärzte fallen dürften.

Geheimnisträger wichtiger als Bürgerrechte?

Dass die Regierungen entsprechende eigene Organisationen von der Überwachung ausnehmen wollen, sieht Patrick Breyer als einen weiteren Beleg dafür, dass die EU-Innenminister „wissen, wie unzuverlässig und gefährlich die Schnüffelalgorithmen sind, die sie auf uns Bürger loslassen wollen“. Seiner Ansicht nach befürchten die Verantwortlichen, dass über die Chatkontrolle „Militärgeheimnisse ohne jeglichen Bezug zu Kindesmissbrauch jederzeit in den USA landen könnten“. Für ihn sei der Schutz der Regierungskommunikation wichtig, die gleichen Maßstäbe müssen allerdings ebenso für den Schutz der Wirtschaft und letztlich auch für den Schutz der Bürger gelten. Für ihn gehören dazu ebenso Räume, die Missbrauchsopfer selbst für einen geschützten Austausch und Therapie brauchen. Ebenso sei es mittlerweile bekannt, dass die meisten „Funde“ der bereits heute von der zuletzt bis April 2026 verlängerten freiwilligen Chatkontrolle für die Ermittlungsbehörden ohne jede Bedeutung sind und teilweise aufgrund der vielen Fehlmeldungen deren Arbeit sogar behindern.

Überforderte Algorithmen

Angesichts dieser tiefen Eingriffe in die Privatsphäre der EU-Bürger empfindet es Patrick Breyer als eine „Unverschämtheit, dass die EU-Innenminister die Folgen der Zerstörung des digitalen Briefgeheimnisses und sicherer Verschlüsselung, die sie uns zumuten, selbst nicht ausbaden wollen“. Für die Spitzenkandidatin der Piratenpartei zur Europawahl Anja Hirschel ist die Formulierung, dass Berufsgeheimnisse von der Chatkontrolle nicht betroffen sein sollen, „eine in Paragrafen gegossene Lüge“. Die Informatikerin sieht das Problem vor allem darin, dass kein Anbieter und kein Algorithmus wissen oder feststellen kann, ob ein entsprechendes Gespräch mit Ärzten, Therapeuten, Rechtsanwälten, Strafverteidigern oder mit anderen Geheimnisträgern geführt wird, um ihn dem Gesetzesentwurf nach von der Chatkontrolle auszunehmen. Dadurch besteht auch die Gefahr, dass intime Bilder für Behandlungszwecke und Prozessunterlagen zur Verteidigung von Missbrauchsopfern in die Hände von Personen gelangen, in denen sie nichts zu suchen haben.

Was aus solchen zum Teil eher harmlosen Dingen entstehen kann, hatte die New York Times im August 2022 auf erschreckende Weise verdeutlicht: Wegen der pandemiebedingten Schließung von Arztpraxen in den USA Anfang 2021 hatte ein Vater ein Bild eines Hautausschlages im Intimbereich seines Sohnes an einen Arzt übermittelt. Zum Verhängnis wurde dem Vater, dass das Bild gleichzeitig als Sicherung in seine Google-Cloud geladen wurde, der Algorithmus anschlug und das Material als Child Sexual Abuse Material (CSAM) einstufte. Google sperrte daraufhin den Account und erstattete automatisiert eine Meldung beim National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) – was wiederum polizeiliche Emittlungen nach sich zog. Der Vater verlor daraufhin den Zugang zu all seinen Fotos, seinem E-Mail-Konto, seinen Kontakten sowie seiner Telefonnummer.

Schutz soll nur vorgeschoben sein

Für Breyer ist es nach eigenen Worten fast schon blanker Hohn, dass die EU-Innenminister ausgerechnet bei der Prävention von Kindesmissbrauch die Erarbeitung von bestmöglichen Methoden ablehnen. Für ihn zeige dies deutlich, dass der Schutz von Kindern lediglich vorgeschoben sei und es sich bei der Chatkontrolle für ihn vielmehr eine Massenüberwachung nach chinesischem Vorbild handele. Wenn echter Kinderschutz im Vordergrund stünde, würden die Verantwortlichen eine systematische wissenschaftliche Evaluierung und Implementierung von multidisziplinären Präventionsprogrammen auf den Weg bringen, gefolgt von europaweiten Standards und Leitlinien für strafrechtliche Ermittlungen bei Kindesmissbrauch, einschließlich der Identifizierung der Opfer und der notwendigen technischen Mittel. Nichts von dem sei jedoch von den EU-Innenministern vorgesehen.

Keine Annäherung in Sicht

Zudem scheinen die EU-Staaten bei den Verhandlungen um die Chat-Überwachung auf der Stelle zu treten, eine Verabschiedung des Gesetzesentwurfs noch vor den Europawahlen am 9. Juni 2024 wird immer unwahrscheinlicher. Ob das Überwachungsvorhaben nach den sich abzeichnenden neuen Machtverhältnissen, die mit der Wahl einhergehen, überhaupt noch umgesetzt werden kann, ist derzeit mehr als fraglich. Anders ist es nicht zu interpretieren, dass ein neuer Vorschlag zur Rettung der Chatkontrolle den anderen jagt. Die sich derzeit völlig gegensätzlichen Positionen von EU-Parlament und des EU-Rat machen dies deutlich. So bezeichnen laut Netzpolitik.org sechs EU-Länder, darunter Bulgarien, Rumänien und Ungarn den Vorschlag der belgischen Ratspräsidentschaft, wonach Dienste weiterhin ihre Nutzer überwachen sollen, aber eventuell gefundene Inhalte erst ab einer bestimmten Schwelle an die Ermittlungsbehörden weiterleiten, um dadurch falsche positive Meldungen zu reduzieren, als nicht durchführbar.

Die Niederlande fordern hingegen, nicht nach „unbekannter Kinderpornografie“ und Grooming zu suchen, weil dies ihrer Meinung nach nicht zuverlässig umzusetzen wäre. Für Frankreich stellt sich hingegen nach wie vor die Frage, wie Dienste minderjährige Nutzer überhaupt feststellen sollen. Die EU-Kommission verwies in diesem Zusammenhang auf die vielfältig verfügbaren Werkzeuge. Frankreich gehörte zu Beginn der Verhandlungen zu den großen Unterstützern der Überwachung, nimmt aber mittlerweile die genau gegenteilige Position ein.

Deutschland fordert weiterhin Änderungen

Auch die deutsche Position bleibt unverändert. Ein Jahr lang haben die derzeitigen Regierungsparteien verhandelt, um zumindest eine erste gemeinsame Linie zu finden, fordern aber nach wie vor weitreichende Änderungen. So lehnt die Bundesregierung die mit der Überprüfung verschlüsselter Kommunikation und Client-Side-Scanning einige besonders umstrittene Teile des Vorhabens ab, signalisiert aber Kompromissbereitschaft bei der Kontrolle unverschlüsselter Kommunikation und der Cloud-Speicherung. Generell tendiert die Bundesregierung bei der Chatkontrolle eher zur Position des EU-Parlamentes, die sie als eine „gute Grundlage für die weiteren Verhandlungen“ sieht.

Juristischer Dienst nach Aussage gegen EU-Rat in der Kritik

In den Fokus rückte zuletzt auch der Juristischen Dienst des Europa-Rates, der von Spanien um Hilfe gebeten wurde, dies jedoch ablehnte. Für den Dienst sei aktuell keine Lösung ersichtlich, welche beiden Seiten gerecht werden würde. Dieser verwies zudem auf das Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes der EU-Kommission, der das Vorhaben bereits vor knapp einem Jahr als nicht mit dem EU-Recht vereinbar eingestuft hatte und davon ausging, dass diese in einem Gerichtsverfahren scheitern würde. Dies stieß bei der EU-Kommission auf Kritik, die dem Dienst daraufhin vorwarf „nicht konstruktiv“ mitzuarbeiten. Ferner gab die Kommission an, dass das Verhalten des Juristischen Dienstes weder der Aufgabe noch dem Selbstbild des Gremiums entspreche. Es wurde zudem die Hoffnung geäußert, dass dieser wieder „zu einer konstruktiven Arbeitsweise zurückkehrt“.