Chatkontrolle: Immer mehr EU-Staaten verweigern Zustimmung

Michael Schäfer
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Chatkontrolle: Immer mehr EU-Staaten verweigern Zustimmung
Bild: USA-Reiseblogger | gemeinfrei

Der Druck auf EU-Innenkommissarin in Sachen Chatkontrolle wächst weiter, im Gegenzug erhöht die Ratspräsidentschaft ihrerseits den Druck. Die Verhandlungen rund um die Chatkontrolle kommen nur schwer voran – und eine Einigung rückt in immer weitere Ferne. Das zeigen von Netzpolitik.org veröffentlichte Verhandlungsdokumente.

Während sich das EU-Parlament in den vergangenen Tagen auf eine gemeinsame Marschrichtung bezüglich der Chatkontrolle einigen konnten und darin erwartungsgemäß vor allem die verdachtslose Überwachung der EU-Bürger und das Aufweichen verschlüsselter Kommunikation ablehnt, ist der EU-Rat von einer Einigung weit entfernt – im Gegenteil: Immer mehr EU-Staaten lehnen das Vorhaben in seiner jetzigen Form ab.

Experten und EU-Justiz sehen massive Eingriffe

Das geplante Gesetz sieht vor, dass Internetdienste die Inhalte ihrer Nutzer durchsuchen und strafbare Kinderpornografie an ein EU-Zentralstelle weiterleiten müssen. Das Vorhaben steht jedoch auf immer wackeligeren Beinen: In der Vergangenheit haben nicht nur verschiedene Datenschutzexperten den Gesetzesentwurf als vollkommen unverhältnismäßig bezeichnet, auch der Juristische Dienst der EU kommt zu dem Schluss, dass das Gesetzesvorhaben nicht mit EU-Recht vereinbar ist und vor dem Europäischen Gerichtshof scheitern wird. Dennoch halten die EU-Kommission und Spanien, das derzeit die Ratspräsidentschaft innehat, an diesem fest. Doch auch hier bröckelt die Unterstützung mittlerweile.

Verhandeln und verschieben

Bereits 24 Mal sollen die Vertreter der EU-Länder in der eigens dafür eingerichteten Arbeitsgruppe Strafverfolgung verhandelt haben. Zuletzt hatte der EU-Rat die Abstimmung über den Entwurf Ende September erneut verschoben – und das, obwohl die Staaten noch Mitte September davon ausgingen, das Vorhaben noch im gleichen Monat ab- und von den Justiz- und Innenministern im Oktober beschließen zu können. Mittlerweile räumt jedoch auch die spanische Ratspräsidentschaft ein, dass der aktuell ausgearbeitete Gesetzesvorschlag innerhalb der Ländervertreter keine im ausreichendem Maße benötigte Unterstützung erhält. Sie selbst hält an der Kontrolle unverdächtiger EU-Bürger und der Aufweichung der Verschlüsselung fest. Zugeständnisse gibt es nur wenige: So soll die Art des zu suchenden Materials zunächst auf bekannte Inhalte beschränkt werden, bis sich die jeweiligen technischen Möglichkeiten geändert haben. Der Umgang mit verschlüsselten Inhalten sollte jedoch beibehalten werden.

Wenig Zustimmung, einige Länder prüfen noch

Somit wird der Spanische Kompromissvorschlag derzeit von gerade einmal 13 Staaten mitgetragen, wobei Länder wie Griechenland, Italien und Rumänien das Vorhaben von Beginn an unterstützen und Ländern wie Bulgarien und Zypern der Kompromissvorschlag bereits zu abgeschwächt ist. Acht weitere Staaten, darunter Finnland, Portugal und Schweden, prüfen den Kompromiss noch. Damit ist nach derzeitigem Stand noch mindestens ein Land nötig, damit der Vorschlag zumindest eine knappe Mehrheit im Rat erhält. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich die noch unschlüssigen Ländern der vorherrschenden Stimmung anschließen und ebenfalls gegen das Vorhaben in seiner jetzigen Form votieren werden.

Frankreich wechselt das Lager

Die Bedenken hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit wurden bereits in der Vergangenheit von einigen Staaten geäußert, darunter Deutschland, Estland, Österreich, Polen und Slowenien. Frankreich hat hingegen eine vollkommene Kehrtwende vollzogen: Noch bis August wurde die französische Ratsdelegation vom rechtskonservativen Innenministerium durch die Verhandlungen geführt und stimmte zu diesem Zeitpunkt der Chatkontrolle noch zu. Im September jedoch wanderte das Thema jedoch zur eher links orientierten Premierministerin und damit „auf die höchste politische Ebene“. Seither werden vor allem die Verhältnismäßigkeit und das Aufweichen verschlüsselter Kommunikation kritisch gesehen. Inzwischen scheint sich Frankreich ebenfalls dem Lager der Gegner angeschlossen zu haben. Auch Polen lehnt den Vorschlag ebenso ab und fordert eine Beschränkung der Kontrolle auf verdächtige Personen. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Meinung nach dem Regierungswechsel von der bisherigen regierenden, eher nationalistisch orientierten Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość; Recht und Gerechtigkeit) hin zur neuen Regierungskoalition aus der liberal-konservativen Bürgerkoalition (KO), dem Mitte-rechts-Parteienbündnis Dritter Weg und der Neuen Linken nicht sogar in eine grundsätzliche Ablehnung ändert.

Deutschland hatte zudem im September zudem einen weiteren Kompromissvorschlag eingebracht, um das Thema zumindest ein wenig zu beschleunigen: Konsensfähige Teile des Vorhabens wie das EU-Zentrum sollten bereits umgesetzt werden, während umstrittene Teile wie die Chatkontrolle dagegen später erörtert werden sollten. Der Vorschlag fand aber noch weniger Zustimmung. So liegt dem EU-Rat bis heute kein ausformulierter Gesetzestext vor, mit dem er in die abschließenden Trilog-Verhandlungen mit der EU-Kommission und dem EU-Parlament treten könnte – seit Wochen hat die Ratspräsidentschaft trotz Ankündigung keinen neuen Vorschlag vorgelegt. Am 1. Dezember will sie die Mitglieder der Arbeitsgruppe lediglich über den aktuellen Stand informieren.

Stolperstein Sperrminorität

Ein weiteres Problem im EU-Rat könnte die Sperrminorität darstellen: Mit dieser könnten vier Länder mit mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung die Abstimmung blockieren. Alleine Deutschland und Frankreich repräsentieren bereits ein Drittel der europäischen Bevölkerung, mit Polen und Österreich wären es bereits 43,7 Prozent. Auch hier steht somit eine Einigung auf sehr dünnem Eis. Das ändert zwar nichts daran, dass die Trilog-Verhandlungen auch ohne entsprechende formale Abstimmung geführt werden können, aber spätestens das endgültige Verhandlungsergebnis muss vom Rat angenommen werden – und da könnte es wieder eng werden.

Auch Europa-Wahl könnte Auswirkungen haben

So läuft der EU-Kommission weiter die Zeit davon. Will sie das Vorhaben noch vor der nächsten Europa-Wahl am 9. Juni 2024 in trockenen Tücher wissen, müssten die Trilog-Verhandlungen in absehbarer Zeit beginnen – danach sieht es derzeit aber nicht aus. Mit der neuen Wahl könnten sich die Verhältnisse im EU-Parlament noch einmal deutlich ändern, was im Anschluss wieder mehr Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen könnte. Auch könnte das Thema Chatkontrolle in einigen Ländern einen besonderen Einfluss auf die Wahl haben – bei der letzten Europawahl Ende Mai 2019 haben vor allem die deutschen Parteien die Emotionalität hinter den Themen Urheberrechtsreform und Umweltschutz deutlich unterschätzt.