Kommentar: Ein politisches Armutszeugnis

Andreas Frischholz
55 Kommentare
Kommentar: Ein politisches Armutszeugnis
Bild: Backbone Campaign | CC BY 2.0
Andreas Frischholz

Politik zum Abgewöhnen

Der Kompromiss zur Netzneutralität, den das EU-Parlament gestern abgesegnet hat, steht beispielhaft für das Elend, das in Europa als Netzpolitik bezeichnet wird. Vom Schutz des offenen Internets ist die Rede. Jeder europäischer Verbraucher soll einen Zugang haben. Und doch werden gleichzeitig zahlreiche Ausnahmen wie etwa die Spezialdienste in das Gesetz geschrieben, sodass es auf mich eher wie ein reudiger Partyslogan wirkt: Alles kann, nichts muss! Das Problem ist nur: Wer die Zeche zahlt, wird später ausgeknobelt.

Denn bis dato ist noch völlig unklar, wie solche Spezialdienste in der Praxis aussehen sollen. Von Seiten der Provider werden diese zwar als eine Mischung aus Heilsbringer und technische Notwendigkeit gepriesen, um den Kunden „innovative Dienste“ anbieten zu können. Fragt man aber nach konkreten Details, fallen die Antworten immer noch vage aus. „Konkrete Pläne zur Einführung von Spezialdiensten gibt es noch nicht“, erklärt etwa ein Sprecher der Deutschen Telekom auf Anfrage von ComputerBase. So wird nach wie vor die Video-Telefonie als Beispiel für eine Anwendung genannt, bei der sowohl hohe Übertragungsraten als auch geringe Latenzen erforderlich sind. Ähnliches gelte für Dienste im Bereich der Telemedizin oder bei der industriellen Fertigung. Auch Online-Games sind ein Feld, bei dem Kunden zahlen könnten, um eine gesicherte Übertragungsqualität zu erhalten.

Der Haken ist allerdings: Laut dem EU-Gesetz sind Spezialdienste nur gestattet, wenn das offene Internet nicht beeinträchtigt wird. Und praktisch alle der bislang als Beispiel genannten Anwendungen funktionieren schon heute. Wieso sollten dann Kunden eine Extragebühr bezahlen, wenn die entsprechenden Anwendungen ohnehin schon laufen? So würden wohl die wenigsten Spieler einen separaten Gaming-Anschluss buchen, wenn dann der Ping nur von 25 ms auf 15 ms reduziert wird.

Ein weiteres Verkaufsargument sind potentielle Engpässe: So sollen Kunden die Wahl haben, ob die Übertragungsqualität lieber beim Video-Streaming oder bei den Online-Spielen abgesichert werden soll. Aber auch solche Probleme lassen sich bereits heute mit den Router-Einstellungen eindämmen. Hinzu kommt, dass solche Engpässe im Alltag vor allem mit niedrigen Anschlussgeschwindigkeiten zusammenhängen. Und da der Breitbandausbau immer weiter voranschreitet, verlieren auch solche Probleme an Relevanz.

Doch der Breitbandausbau ist vermutlich eines der zentralen Stichworte im Streit um die Spezialdienste. Denn die Investitionen in die Netze sind teuer, die Marktlage für Provider ist trübe und die EU-Staaten kämpfen mit klammen Haushalten. Daher wird auch seit langem gefordert, dass sich Internetdienste – und allen voran die amerikanischen Branchenriesen wie Amazon, Google und Netflix – an dem Ausbau beteiligen sollen. So wurden die Ausnahmen in der Netzneutralität während der Debatte im EU-Parlament auch mit der Aussage verteidigt, es müsse verhindert werden, dass „große amerikanische Netzkonzerne gratis unsere Infrastruktur in Europa benutzen“. Technisch bedeutet das allerdings: Es müssen Überholenspuren (Fast Lanes) geschaffen werden, um die Internetdienste zur Kasse zu bitten. Die drohenden Kollateralschäden werden dabei offenkundig ausgeklammert. Ebenso unklar ist, ob solche Überholspuren überhaupt mit dem aktuellen Gesetz vereinbar sind. Das werden letztlich die nationalen Regulierungsbehörden sein – also im Fall von Deutschland die Bundesnetzagentur – entscheiden müssen.

Denn eine der bitteren Pointen bei dem aktuellen Gesetz ist: Trotz der zahlreichen Probleme, die derzeit bei der Regulierung von Internetdiensten und Providern bestehen, liefert das aktuelle EU-Gesetz selbst bei trivialen Fragen keine Antworten. Stattdessen will man zwar irgendwie das offene Internet bewahren, greift aber nicht in den Machtkampf zwischen den Internetdiensten und den Providern ein. Daher ist das aktuelle Gesetz eigentlich auch kein politischer Kompromiss, sondern vielmehr die Verweigerung von Politik – ein mühsam zusammengeschustertes Machwerk, das bestenfalls den Status Quo zementiert und keine Probleme löst.

Hinweis: Der Inhalt dieses Kommentars gibt die persönliche Meinung des Autors wieder. Diese Meinung wird nicht notwendigerweise von der gesamten Redaktion geteilt.