Mercedes-Benz Drive Pilot im Test: Was der Drive Pilot kann und was nicht

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Nicolas La Rocco
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Die Operational Design Domain

Der Drive Pilot kann auf allen 13.191 km Autobahn Deutschlands genutzt werden – mit Ausnahmen. Eine grundlegende Voraussetzung für die Nutzung des Systems ist die eingangs erwähnte Stausituation oder stockender Verkehr mit einer Geschwindigkeit von maximal 60 km/h. Der Drive Pilot kann zudem ausschließlich bei Tag und auf trockener Strecke bis leichter Nässe aktiviert werden. Das Fahren bei Nacht, hoher Nässe oder auf Schnee und vereisten Straßen wird nicht unterstützt. Das ist ein Teil der sogenannten ODD („Operational Design Domain“), also der Bedingungen für die Nutzung des Drive Pilot. Weitere Bestandteile der ODD sind vom System erkennbare Fahrbahnmarkierungen und ein vorausfahrendes Fahrzeug, das als ein Indikator einer Stausituation registriert wird. Es reicht also nicht aus, die Geschwindigkeit selbst auf maximal 60 km/h zu reduzieren, um daraufhin den Drive Pilot aktivieren zu können.

Nicht für Baustellen und Tunnel geeignet

Obwohl der Drive Pilot grundsätzlich auf allen Autobahnkilometern Deutschlands genutzt werden kann, gibt es selbstverständlich Ausnahmen. Auf- und Abfahrten zählen zum Beispiel nicht zu den freigegebenen Strecken. Darüber hinaus kann das System nicht in Tunneln oder im Bereich von Mautstationen aktiviert werden. Tunnel können dabei auch breitere oder mehrere aufeinander folgende Brücken sein, die die eigene Fahrbahn überqueren. Außerdem steht der Drive Pilot nicht innerhalb von Baustellen zur Verfügung, selbst wenn von diesen nur noch Überbleibsel wie Baken am Fahrbahnrand stehen.

Ein neues Lenkrad für den Drive Pilot

Sind die Voraussetzungen für die Nutzung des Drive Pilot erfüllt, kann dieser innerhalb eines mehrphasigen Prozesses aktiviert werden. Ebenso gibt es für die Deaktivierung des Drive Pilot gewisse Vorgehensweisen, die auch Szenarien umfassen müssen, in denen der Fahrer nicht mehr reagiert. Dass der Drive Pilot verfügbar ist, signalisieren neue Leucht- und Bedienelemente links und rechts am Lenkrad, die oberhalb der horizontal verlaufenden Spange zu finden sind, sowie ein Hinweis im Display vor dem Fahrer. Die jeweils mit einem Piktogramm bestehend aus Auto und dem Buchstaben „A“ versehenen Tasten leuchten bei Verfügbarkeit des Drive Pilot weiß auf, woraufhin das System durch einmaliges Drücken einer der beiden Tasten aktiviert werden kann. Dass am Lenkrad zwei Bedienelemente verbaut werden, hat ausschließlich etwas mit der besseren Erreichbarkeit und nicht etwa mit einer doppelten Bestätigung zu tun.

Aktivierung des Drive Pilot über Fade-in-Prozess

Im Anschluss dieses Vorgangs läuft ein sogenannter Fade-in-Prozess ab, der wenige Sekunden benötigt, um alle Parameter zu überprüfen, und bei Erfolg schließlich in den aktiven Drive Pilot wechselt. In diesem Moment werden Fahraufgabe und Überwachung des Verkehrsgeschehens vom Fahrer an das Fahrzeug übergeben, was die große Unterscheidung zu Systemen nach Level 2 und 2+ ist. In dieser Phase des hochautomatisierten Fahrens darf sich der Fahrer ganz legal mit anderen Dingen beschäftigen, die normalerweise verboten sind. So können auf dem großen MBUX-Bildschirm der Mittelkonsole zum Beispiel Filme und Serien geschaut, Spiele gespielt oder Websites über den Browser aufgerufen werden. Rein rechtlich betrachtet dürfte man sogar das Smartphone nutzen, allerdings rät Mercedes-Benz aus Gründen der passiven Sicherheit davon ab. Der Hersteller empfiehlt, lediglich fest im Fahrzeug verbaute Gerätschaften zu verwenden.

Die Fahraufgabe geht bei Level 3 erstmals an das Auto
Die Fahraufgabe geht bei Level 3 erstmals an das Auto (Bild: Mercedes-Benz)

Türkis signalisiert aktiven Drive Pilot

Die aktive Phase des Drive Pilot wird über eine türkisfarbene Beleuchtung direkt oberhalb der Tasten zur Aktivierung und über einen leuchtenden Ring gleicher Farbe hinter dem Lenkrad signalisiert. Einmal durch den Fahrer aktiviert, regelt das Level-3-System bis 60 km/h die Geschwindigkeit und den Abstand und führt das Fahrzeug innerhalb der Spur. Gas, Bremse und Lenkrad müssen dauerhaft nicht mehr bedient werden. Streckenverlauf, auftretende Streckenereignisse und Verkehrszeichen werden ausgewertet und entsprechend vom Drive Pilot berücksichtigt. Der Drive Pilot kann unerwartet auftretende Verkehrssituationen erkennen und durch Ausweichmanöver innerhalb der Spur oder durch Bremsmanöver eigenständig bewältigen – Spurwechsel werden nicht unterstützt. Das Fahrzeug bildet zudem eigenständig eine Rettungsgasse und fährt dafür zum Beispiel etwas weiter rechts in der eigenen Spur. Der Verlauf der Rettungsgasse wird dem Fahrer über eine entsprechende Animation im Fahrer-Display angezeigt.

Ablauf von Verfügbarkeit, Aktivierung und Deaktivierung des Drive Pilot
Ablauf von Verfügbarkeit, Aktivierung und Deaktivierung des Drive Pilot (Bild: Mercedes-Benz)

Der Fahrer muss übernahmebereit bleiben

Obwohl der Drive Pilot als erstes Level-3-System einen bedeutsamen Schritt nach vorne in der Autoindustrie macht, muss stets im Hinterkopf behalten werden, dass es sich nicht um ein autonomes Auto nach Level 4 handelt, das nicht mehr die Übernahmefähigkeit des Fahrers voraussetzt. Level 3 wie beim Drive Pilot bedeutet zwar, dass erstmals die Fahraufgabe inklusive der Überwachung des Verkehrsgeschehens vollständig an das Fahrzeug abgegeben werden kann, der Fahrer muss aber „übernahmebereit“ bleiben, wie es die Auslegung ganz korrekt beschreibt. Konkret bedeutet das, dass der Fahrer bei Verlassen der ODD innerhalb einer Frist wieder aktiv die Fahraufgabe übernehmen muss. Beim Drive Pilot sind das zehn Sekunden, innerhalb derer der Fahrer das Steuer übernehmen muss. Wird auch nach eskalierter Übernahmeaufforderung nicht gehandelt, etwa wenn ein gesundheitliches Problem vorliegt oder der Drive Pilot im Rahmen eines Versuchs bewusst an die Systemgrenzen geführt wird, bremst das Assistenzsystem im Rahmen eines Sicherheitsstopps kontrolliert das Auto ab und aktiviert das Warnlicht. Zusätzlich werden die Gurte gestrafft, das Notrufsystem aktiviert und die Türen und Fenster entriegelt, um Ersthelfern den Weg in das Fahrzeug zu erleichtern.

Die zehn Sekunden werden nicht ausgereizt

Im Regelfall sollte es abseits von gesundheitlichen Einschränkungen nicht zu solchen Situationen kommen. Dem Verlassen des Drive Pilot liegt wie der Aktivierung ein geordneter Prozess zugrunde. Sobald man sich einem Streckenabschnitt nähert, auf dem die ODD nicht mehr erfüllt wird, leuchten die zuvor türkisfarbenen Elemente am Lenkrad gelb auf und es wird auf dem Display auf den bevorstehenden Übergang in den manuellen Modus hingewiesen. Im Praxistest auf der Berliner A100 erfolgte der Wechsel hingegen abrupter, als es auf den Schaubildern von Mercedes-Benz zu sehen ist, indem die Leuchtelemente rasch zu Rot wechselten und auf dem Fahrer- und Zentral-Display Hinweise zur Übernahme erschienen. Diese Phase wird zudem durch einen akustischen Hinweis begleitet. Sobald der Drive Pilot zur Übernahme auffordert, befindet man sich innerhalb der Frist von zehn Sekunden, in deren Verlauf auch bereits Systeme wie die Gurtstraffer aktiv werden, um die Insassen auf einen potenziellen Sicherheitsstopp vorzubereiten. Es ist also keinesfalls so, dass erst die genannten zehn Sekunden verstreichen, bevor das Fahrzeug erste Maßnahmen zur Absicherung vornimmt.

Deaktivieren lässt sich der Drive Pilot dann entweder durch erneutes Drücken einer der Tasten am Lenkrad oder über die Übersteuerung des Systems per Gas, Bremse oder Lenkung. Verlassen werden kann der Drive Pilot grundsätzlich immer über diese zwei Methoden, also nicht nur wenn das Assistenzsystem dazu auffordert.

Distronic ist kein Fallback für den Drive Pilot

Grundsätzlich ist zu wissen, dass der Drive Pilot ein eigenständiges Assistenzsystem ist, das unabhängig von der Distronic funktioniert und nicht darauf aufbaut. Der Wechsel erfolgt also nicht von einer manuellen Fahrt erst zur Distronic (Level 2) und dann zum Drive Pilot (Level 3), sondern auf der Autobahn kann bei Erfüllung der ODD sofort von der manuellen Fahrt oder der aktiven Distronic zum Drive Pilot gewechselt werden. In die entgegengesetzte Richtung ist die Distronic kein Fallback für den Drive Pilot, sodass nach einer Level-3-Phase weder automatisch noch manuell eine tiefere Stufe gemäß Level 2 eingeleitet wird. Das bedeutet allerdings auch, dass bei zuvor aktiver Distronic und dann einer Zuschaltung des Drive Pilot die Distronic nach Verlassen des Drive Pilot ebenfalls deaktiviert wird. Das Deaktivieren des Drive Pilot stellt nicht den vorherigen Zustand wieder her, sondern führt stets zum vollständig manuellen Fahren, was beim Test in Berlin als störend empfunden wurde. Die eigentlich unabhängig voneinander agierenden Systeme hängen zumindest beim Ausschalten dann doch zusammen.

Auf der nächsten Seite des Tests wird das Fahren mit Drive Pilot beschrieben.