Ein Jahr unter Elon Musk: X kämpft mit Verlusten und sinkender Reichweite

Update Andreas Frischholz
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Ein Jahr unter Elon Musk: X kämpft mit Verlusten und sinkender Reichweite
Bild: Elon Musk

Vor einem Jahr hat Elon Musk Twitter übernommen. Was folgte, war ein turbulentes Jahr, das die Plattform in den Grundfesten erschütterte. Der zeitweise prophezeite Untergang ist ausgeblieben, doch die Aussichten bleiben düster. Die Konkurrenz kämpft aber weiterhin mit fehlender Relevanz.

Wie es genau um das soziale Netzwerk X (ehemals Twitter) steht, lässt sich von außen nur schwer nachvollziehen. Seit der Übernahme und dem Delisting von sämtlichen Handelsplätzen veröffentlicht das Unternehmen keine Zahlen mehr. Analysedienste zeigten zuletzt aber fallende Reichweiten.

Sinkende Reichweite: Vor allem der Namenswechsel hat geschadet

Der Newsletter Big Technology berichtet etwa basierend auf Ergebnissen von Apptopia, dass X im letzten Jahr einen Rückgang von 13 Prozent seiner Nutzer verzeichnete. Demnach sank die Zahl der App-Nutzer von 140 Millionen auf 121 Millionen. Entsprechende Ergebnisse liefert auch der Analyse-Dienst Sensor Tower, der einen Einbruch um gut 15 Prozent erfasst.

Bemerkenswert: Vor allem seit dem Namenswechsel zu X im Juli erfolgte ein deutlicher Einbruch, der ohnehin bestehende Trend verstärkte sich. Und es ist kein Branchentrend, die etablierten Plattformen wie Snapchat, Instagram, TikTok und Facebook können zulegen.

Immerhin: An der Zeit, die Nutzer mit X verbringen, habe sich laut Big Technology nicht viel geändert. Diese liegt laut den Apptopia-Zahlen nach wie vor bei gut 15 Minuten. X bleibt dabei top heavy, also von einer kleinen Menge Power-Usern abhängig. So stehen die zehn Prozent der aktivsten Nutzer für 72 Prozent der Zeit, die insgesamt mit dem Dienst verbracht wird. Im Oktober 2022 lag dieser Wert noch bei 70 Prozent, Power-User gewinnen also tendenziell an Bedeutung. Eine der Erkenntnisse von Branchenbeobachtern lautet somit: Es werden weniger Nutzer, die verbringen aber immer noch Zeit auf der Plattform.

Die Angaben stehen konträr zu Aussagen wie denen von Musk oder der neuen CEO Linda Yaccarino, die beide im Verlauf des Jahres von Reichweitenrekorden sprachen. Überprüfen und einordnen lassen sich solche Aussagen aber kaum.

Wert von X wird auf unter 10 Milliarden US-Dollar geschätzt

Was sich im Laufe des Jahres abzeichnete, sind die Pläne, die Musk für X hat. Die Plattform soll sich zu einer Everything-App entwickeln, die nicht mehr nur Kurznachrichtendienst, sondern als eigenständiges Ökosystem weitere Funktionen wie Messaging oder Finanzdienste bietet. Neuerungen wie die in dieser Woche eingeführte Sprach- und Videotelefonie sind ein weiterer Schritt in diese Richtung.

Chronik des Chaos

Nur wirkt der Umbau nicht geordnet, sondern erratisch. Eine Chronik der Entwicklung:

Finanziell zahlt sich der Strategiewechsel bislang nicht aus. Analysten schätzen den Marktwert von X auf nur noch rund 8 Milliarden US-Dollar – Musk hatte zuvor für Twitter 44 Milliarden US-Dollar bezahlt. Dafür verantwortlich ist vor allem der Einbruch beim Werbegeschäft, das hat sich laut Musk halbiert. Geschätzt wird somit ein Umsatzrückgang von knapp 5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 auf rund 2,5 Milliarden US-Dollar. Eine Alternative soll das Geschäft mit Abonnements sein, doch auch das kommt nicht in die Gänge. Ende April lag die Anzahl der zahlenden Nutzer laut einer Schätzung von Mashable (via Spiegel) noch bei rund 620.000, was Einnahmen von 60 bis 65 Millionen US-Dollar entspricht. Selbst wenn sich die Anzahl bis heute verdoppelt oder verdreifacht haben sollte (was enorm wäre), wäre das Abo-Modell bisher nicht ausreichend skalierbar, um fehlende Werbeeinnahmen auszugleichen.

Der finanzielle Kollaps ist bislang aber ausgeblieben. Musk sprach im Verlauf des Jahres von einer finanziellen Trendwende, Yaccarino verkündete, Werbekunden kehren zurück. Wie nachhaltig der Wachstumskurs ist, lässt sich von außen – wie gewohnt – nicht nachvollziehen. Business Insider meldete erst vor wenigen Tagen, dass die größten Werbekunden erneut die Anzeigenschaltung gestoppt haben.

X steht immer noch im Mittelpunkt, Konkurrenz kämpft mit Relevanz

X verzeichnet also sowohl bei der Reichweite als auch den Finanzen Einbrüche. Davon profitiert zwar die direkte Konkurrenz bei den Kurznachrichtendiensten, am Ende kämpfen diese aber weiterhin mit fehlender Relevanz. Krisen wie der Terror-Angriff der Hamas auf Israel verdeutlichten: Selbst wenn die Bedeutung sinkt, ist X die Plattform, die im Mittelpunkt steht.

Fraglich bleibt nur, wie lange es so noch weitergeht, denn es zeigten sich auch Probleme, die etwa den Umgang mit Desinformation betreffen. Schwierig ist diese Aufgabe ohnehin, alle sozialen Dienste kämpfen damit – und das seit Jahren. Forscher und Organisationen kritisieren aber, dass sich bei X die Situation besonders verschlechtert hat. Zu den Gründen zählen:

  • Massenentlassungen betrafen insbesondere Teams, die für Moderation zuständig sind.
  • Konten mit einem Premium-Abo, die in Feeds bevorzugt dargestellt werden, zählen zu den stärksten Verbreitern von Desinformation (The Verge.)
  • Konzepte wie Community Notes sind noch nicht ausgereift und lagern den Kampf gegen Desinformationen auf die Nutzer aus.

Vor allem das Fehlen verifizierter Konten, die früher durch den blauen Haken gekennzeichnet waren, erschwert das Bewerten von Informationen. Der Terrorangriff der Hamas war laut Mike Rothschild, ein auf Verschwörungsideologien spezialisierter Forscher und Autor, daher der „erste Echtzeit-Test für Elon Musks Version von Twitter und es ist spektakulär gescheitert“.

Dezentraler Ansatz als Versprechen für die Zukunft

Abwanderungswellen von Nutzern zu konkurrierenden Diensten sind daher eine der Konsequenzen. In Deutschland ist es vor allem Bluesky, das in den letzten Wochen profitieren konnte. In den USA nutzen etwa Journalisten und Experten Threads, doch die Nutzerzahlen bleiben überschaubar. Bei Bluesky sollen diese bei rund 1,3 Millionen liegen.

Threads von Meta startete im Juli mit 100 Millionen registrierten Nutzern binnen einer Woche, ein neuer Rekord. Seitdem sinkt die Reichweite aber. Mark Zuckerberg erklärte diese Woche noch, die Anzahl der monatlich aktiven Nutzer würde bei 100 Millionen Nutzern liegen, doch Analysten sprechen eher von rund 10 Millionen Nutzern. Das ist in etwa das Niveau von Mastodon, der dezentralen Twitter-Alternative ohne Unternehmen im Hintergrund. Meta versucht Threads aber weiterhin zu fördern. So werden etwa Beiträge aus dem Kurznachrichtendienst seit Kurzem auch auf Facebook angezeigt.

So ein plattformübergreifendes Ausspielen von Inhalten ist bereits eine Vorschau für das dezentrale Konzept der Dienste. Threads und Bluesky nutzen wie Mastodon ein dezentrales Protokoll. Technisch ist es also grundsätzlich möglich, die Plattformen zu verknüpfen. Inwieweit das sinnvoll umsetzbar ist, bleibt abzuwarten. Und ohnehin ist noch nicht klar, wann Meta die entsprechenden Funktionen bei Threads – das nach wie vor nicht in der EU verfügbar ist – einfügen will.

Erwartbar ist aber: Wenn die im Kern als rudimentäre Twitter-Klone gestarteten Dienste tatsächlich technisch nachlegen können, erhöht sich nochmals der Druck auf X. Vorerst steht jedoch fest: Auch ein Jahr nach der Musk-Übernahme bleibt X der unbeugsame Platzhirsch. Doch die Probleme häufen sich und die Konkurrenz bringt sich in Position.

Update

Mit dem am Freitag vorgestellten Premium+-Tarif unterstreicht X nochmals die neue Strategie, die stärker auf Bezahldienste setzt. So sehen Abonnenten dieses Pakets keine Werbung im „For-You“-Reiter, Antworten („Replies“) erhalten mehr Reichweite und es gibt einen vollen Zugriff auf die Creator-Tools von X. Premium+ kostet 16 Euro pro Monat, wenn man es jährlich abrechnet, zahlt man 168 Euro (14 Euro pro Monat).

Vor allem die zusätzliche Reichweite bei den Antworten betreffen aber erneut problematische Bereiche. Mit einem Abonnement legitimierte Konten zählen – wie oben beschrieben – ohnehin zu den Konten, die am häufigsten falsche Informationen verbreiten.

Selbst ohne diesen Aspekt werden die Vorteile skeptisch bewertet, da Premium+-Nutzer sich einen Vorteil gegenüber anderen Abo-Paketen und normalen Nutzern erkaufen können. The-Verge-Autor Tom Warren spricht von einem „pay-to-win“-Modell.