Anno 1800: Geschönte Historie könne Geschichtsbild verzerren

Fabian Vecellio del Monego
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Anno 1800: Geschönte Historie könne Geschichtsbild verzerren
Bild: Ubisoft

In Anno 1800 (Test) erleben die Spieler – wie in zahlreichen anderen Spielen – eine oftmals sehr einseitige Interpretation der Geschichte, die zugunsten des Spielspaßes ihrer Schattenseiten beraubt wurde. Der Historiker Felix Zimmermann beschrieb das Phänomen im August 2018 ausführlich, Golem.de reflektierte es nun auf Anno.

Interpretation der Geschichte mit Anspruch der Authentizität

Anno 1800 bildet die Geschichte nicht ab, sondern basiert auf einer subjektiven und kurierten Version derselbigen. Diese Erkenntnis mag mitunter nicht überraschen, sofern aufmerksame Spieler darüber nachdenken – doch meist kommt es erst gar nicht soweit, wie der Kölner Kulturwissenschaftler und Historiker Zimmermann schreibt. Anno 1800 gilt unter anderem als Simulation und erhebe damit im Unterbewusstsein der Konsumenten den Eindruck, ein korrektes und vor allem objektives Abbild des 19. Jahrhunderts zu liefern. Schnell adaptieren sie den skizzierten Hintergrund des Spiels, blenden Unstimmigkeiten aus und vergessen im Spiel schlicht gar nicht behandelte Themenfelder vollends.

Das muss dabei gar nicht als konkrete Kritik an Anno 1800 verstanden werden – der Titel startete viermal so erfolgreich wie der Vorgänger und erntet überwiegend positive Rezensionen. Auch das Medium des Videospiels als solches kann freilich nicht für die Kreation einer ansprechenden Spielwelt bemängelt werden. Eine fröhliche und behaglich-positive Atmosphäre trägt oftmals zu einer besseren Spielerfahrung bei, doch ist ein zweischneidiges Schwert: Nicht nur Kinder, sondern gerade Erwachsene, deren Geschichtsunterricht mitunter schon längere Zeit zurückliegt, erhalten ungewollt ein zu positives Bild der Vergangenheit.

Denn genau so, wie Spiele mit historischem Setting das Interesse und die Lust an der Geschichte wecken können, drohen derlei Umdeutungen ein Geschichtsbild in den Köpfen der Spieler zu formen, das längst nicht mehr zeitgemäß ist, wie Zimmerer sagt:

‚Indem Anno 1800 Kolonisation verniedlicht und den Beitrag der Sklaverei für die Industrialisierung und den Wohlstandszuwachs Europas ignoriert, hilft es, eine europäische Erfolgsgeschichte zu verbreiten, welche die dunklen Seiten einfach ausblendet.‘

Golem.de

Unrealistischer Realismus erscheint gefährlich realistisch

In Anno 1800 kritisieren Zimmermann und Golem.de symbolisch vor allem den Umgang mit der Kolonialisierung. Heikle und mitunter schwer aufzuarbeitende Themen wie Sklaverei, die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung durch die Kolonialmächte – die der Spieler sinnbildlich vertritt – und auch die industrielle Revolution selbst werden entweder ausgeblendet oder nur einseitig behandelt, eine ambivalente Auseinandersetzung ist innerhalb des Spiels schlichtweg nicht möglich. Dirk Riegert, Creative Director beim Entwickler Blue Byte in Mainz, äußerte sich diesbezüglich schon im Sommer 2017: Sklaverei sollte in Anno 1800 kein zentrales Spielelement werden, weil sich die Spieler nicht unwohl fühlen sollen.

Von einem langjährigen anonymen Entwickler habe Golem.de zudem weitere Einblicke erhalten: Zentrale Werte der Anno-Reihe seien seit jeher „light, bright“ und „good natured“ gewesen. Die unter dieser Prämisse geschaffene Spielwelt sei stets eine Parallelwelt, die nah genug am Realismus bleibe, um realistisch zu erscheinen. Beim Beispiel Anno muss zwar positiv angemerkt werden, dass Themen wie etwa Kreuzzüge, Bettler oder auch der Klimawandel bereits durchaus behandelt wurden, wenn auch oberflächlich und ebenfalls skizziert; doch im neuesten Serienableger könne eine „hochproblematische“ Umdeutung der Geschichte gesehen werden.

Dadurch, dass Anno 1800 als historische Simulation daherkommt, erhebt es ja den Anspruch, die Geschichte abzubilden. Das heißt: Gerade die Spieler, die nicht zufällig Geschichte studieren oder nicht Geschichtslehrer sind, vermuten ja, dass das damals so war.

Und wenn dann so ein entscheidender Faktor, der zum Wohlstand und zur Industrialisierung beigetragen hat, wie die transatlantische Sklaverei und die Sklavenwirtschaft fehlt, dann lernen sie daraus, dass es das nicht gab.

Prof. Jürgen Zimmerer gegenüber Golem.de

Investoren sind mehr wert als Obreros

Ein weiteres Problem ergebe sich außerdem durch die ungleichmäßige Verteilung des Fokus auf die europäisch und südamerikanisch orientierten Inselwelten und Bewohner. Während letztere in heimischen Gefilden zu Ingenieuren und Investoren – die als indirektes Ziel des Spiels gelten – aufsteigen können, können sich die Lateinamerikaner lediglich von Jornaleros zu Obreros, also von Tagelöhnern zu Arbeitern entwickeln und dienen in erster Linie dem Stillen europäischer Bedürfnisse.

Eine Doppelmoral sieht der Historiker auch in der Ausblendung des Sklavenhandels und der Möglichkeit, Aufstände – wenn auch kaum visualisiert – per Polizeigewalt und Propaganda bekämpfen zu können.

Konflikte zwischen Historik und Spielspaß sind nicht neu

Dass es fast immer zu Konflikten führt, wenn reale Geschichte und Videospiele aufeinander treffen, zeigt beispielsweise auch Battlefield V: Der Titel eines gänzlich anderen Genres geriet in Kritik, weil er die Geschichte des zweiten Weltkriegs zwecks Emanzipation mit Soldatinnen ergänzte. In jenem Fall war es die Spielerschaft, die überwiegend mit Unverständnis reagierte; zahlreiche Diskussionen waren die Folge. Publisher EA und Entwickler Dice argumentierten unter anderem damit, dass es sich um ein Spiel handele, nicht aber um eine Simulation – im Vordergrund stände der Spielspaß, nicht die Geschichte.

Sicherlich intendieren die Entwickler beider Spiele keine Umdeutung der Vergangenheit und ebenso wenig liegt es im Interesse der Unterhaltung, dem Spieler stets ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Gegenüber Golem.de habe Ubisoft zudem bestätigt, gar keine korrekte Historie liefern zu wollen, doch „romantisierter Kolonialismus“ sei laut Zimmermann schlichtweg zu gefährlich, als dass er ausschließlich positiv konnotiert und für sich allein stehen dürfe.