Freiwillige Chatkontrolle: EU-Bericht nährt Zweifel an Verhältnismäßigkeit

Michael Schäfer
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Freiwillige Chatkontrolle: EU-Bericht nährt Zweifel an Verhältnismäßigkeit
Bild: bepart64 | gemeinfrei

Nachdem sich immer deutlicher abzeichnet, dass die ursprünglich gesetzten zeitlichen Ziele der Chatkontrolle nicht eingehalten werden können, will die EU-Kommission die freiwillige Übergangsregelung verlängern. Ein nun verspätet veröffentlichter Bericht nährt jedoch weitere Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Vorhabens.

Die Chatkontrolle steht für EU-Innenkommissarin Ylva Johansson unter keinem guten Stern: Das EU-Parlament will nur bei massiven Änderungen für die Verordnung stimmen und im EU-Rat zeichnet sich weiterhin keine Einigung an. Damit können die Trilog-Verhandlung zwischen den beiden Institutionen und der EU-Kommission nicht mehr in diesem Jahr aufgenommen werden, womit das Vorhaben, die Chatkontrolle noch vor der nächsten Europa-Wahl am 9. Juni 2024 durchzubringen, immer unwahrscheinlicher wird. Die Wahl könnte das Vorhaben der Schwedin gänzlich unmöglich machen, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament maßgeblich ändern. Ebenso ist nicht auszuschließen, dass sich dadurch auch die Zusammensetzung und Arbeitsteilung in der EU-Kommission ändern und das Vorhaben unter einem neuen Kommissar nicht mehr verfolgt wird.

Freiwillige Kontrolle soll in die Verlängerung

Da die Zeit daher drängt, verkündete die EU-Kommission Anfang des Monats, zumindest die freiwillige Chatkontrolle am Leben erhalten zu lassen und um zwei Jahre zu verlängern. Eine Verlängerung ist deshalb notwendig, da das bisherige Gesetz hat nur noch bis zum 3. August 2024 Bestand hat. Um nicht kurz nach der Europa-Wahl, während der Bildung einer neuen EU-Kommission ein ersatzloses Auslaufen des Gesetzes zu riskieren, scheint deshalb gesichert, dass die Mehrheit der EU-Abgeordneten am heutigen Mittwoch ihre Zustimmung geben werden. Mit der freiwilligen Kontrolle ist es Internet-Diensten wie Facebook, Google oder Microsoft bereits jetzt erlaubt, die Inhalte ihrer Nutzer zu überprüfen, auch wenn ein solches Vorgehen der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation nach verboten ist. Damit die Anbieter die Dateien, die auf ihre Server gelangen, dennoch überprüfen können, bedarf es einer Ausnahmeregelung.

Beweisumkehrung

Diese setzt jedoch verpflichtend einen Bericht voraus, den die EU-Kommission bereits im August dieses Jahres veröffentlichen wollte und der nun mit viermonatiger Verspätung erschienen ist. Laut einem Bericht von Netzpolitik.org wirft dieser jedoch einige weitere Fragen auf und könnte somit zu einem weiteren Debakel für EU-Kommissarin Johansson werden.

Auch wenn die Verordnung nach Ansicht des juristischen Dienstes des EU-Rates (CLS) gegen EU-Grundrechte verstößt und daher in ihrer ursprünglichen Form vor dem EuGH keinen Bestand haben könnte, wurde vonseiten der EU-Kommission die Verhältnismäßigkeit einer generellen Chatkontrolle immer wieder beteuert. Diese Ansicht scheint der Bericht jedoch nicht zu bestätigen, ganz im Gegenteil: In weiten Teilen bleibt dieser in der Darstellung der Fakten und Schlussfolgerungen äußerst vage und selbst die EU-Kommission muss einräumen, dass die Zahlen nicht wirklich vergleichbar wären. Problematisch könnte für Innen-Kommissarin Johansson allerdings werden, dass der Bericht auch keine Einordnung der Verhältnismäßigkeit zulässt, hier heißt es lediglich: „Die verfügbaren Daten reichen nicht aus, um diesbezüglich endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen“. Dennoch kommt der Report zu dem Schluss, dass es in Anbetracht der gemachten Ausführungen keine Anhaltspunkte dafür gibt, „dass die Ausnahmeregelung nicht verhältnismäßig ist“. Während also der Bericht eigentlich die Verhältnismäßigkeit der Verordnung belegen soll, dies aber den Ausführungen nach nicht kann, dreht die EU-Kommission offenbar den Spieß um und sucht nun nach Beweisen für das Gegenteil.

Als weitere Hürde werden die unterschiedlichen Rechtsstandards der verschiedenen europäischen Staaten aufgelistet: Dies beginnt bei den in der EU unterschiedlichen Altersgrenzen für „Kinder“, die zum Beispiel in Deutschland so lange gilt, bis das 14. Lebensjahr vollendet ist, bis hin zur eigentlichen Definition von strafbarer Kinderpornografie, die meist mehr Delikte umfasst als die sexualisierte Gewalt gegen Kinder.

Wenn wenig noch mehr aussagt

Für Patrick Breyer, Bürgerrechtler, Jurist und Politiker, der für die Piratenpartei im Europaparlament sitzt, ist jedoch viel interessanter, was der Bericht verschweigt: Unter anderem, dass für die Polizei lediglich jedes vierte ausgesteuerte Privatfoto oder -video eine Relevanz besitzt. Das bedeutet, dass durch die Chatkontrolle bis zu 75 Prozent strafrechtlich völlig irrelevante private und intime Bilder und Videos in Hände von Mitarbeitern gelangen, bei denen sie nicht sicher sind. Dies hatte Kommissarin Johansson jüngst in einer Runde vor den EU-Innenministern eingeräumt.

Zu einer noch geringeren Quote kam im Jahr 2020 die irische Polizei, wie eine Untersuchung des Rechtsausschusses des irischen Parlamentes im April dieses Jahres feststellte: Lediglich 9,7 Prozent der untersuchten Inhalte konnten von der Polizei verwertet werden. Auch eine Größenordnung des Prüfaufwandes wurde seinerzeit genannt: Bei rund zehn Milliarden täglich innerhalb der EU verschickten Nachrichten müssten bei einer Meldungsrate von lediglich 0,001 Prozent bereits jeden Tag 100.000 Nachrichten überprüft werden. Das würde wiederum zu viele Kräfte binden, die an anderen Stellen fehlen würden. In der Schweiz waren im gleichen Zeitraum mit 20 Prozent der Meldungen ebenfalls deutlich weniger Inhalte für die Strafverfolgungsbehörden verwertbar.

Ein Mischmasch aus allem

Laut Breyer vermischt der Bericht der EU-Kommission zudem NCMEC-Meldungen (National Center for Missing and Exploited Children) mit der freiwilligen Chatkontrolle. Erstere bedürfen eigentlich einer besonderen Einordnung, da nicht jede der Meldungen zugleich eine potenzielle Straftat darstellt. Bei diesen würden deshalb „Verdachtsmeldungen, Identifizierungen und Verurteilungen in den Raum gestellt, ohne dass ein Zusammenhang mit der Chatkontrolle privater Nachrichten belegt ist, weil NCMEC-Meldungen auch auf Nutzermeldungen oder öffentlichen Posts/Webseiten beruhen“. Das würde im Umkehrschluss dazu führen, dass tausende Minderjährige kriminalisiert und nationale Strafverfolger überlastet werden. Aus diesem Grund fehle für ihn auch jeder Nachweis, dass die Überwachung der Nutzer durch die Anbieter einen wirklichen Beitrag zur Rettung missbrauchter Kinder oder Überführung von Missbrauchstätern leisten würde.